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Vergangenheit - zukunftsfähig

Auf dem Weg zu einer gänzlich deutschen Identität  ■ E S S A Y

Daß die Deutschen aus Ost und die aus West sich vorerst hauptsächlich unterscheiden, zeigt sich im Fieber schleunigster Vereinheitlichung an immer neuen Beispielen. Plötzlich gibt es fast alles doppelt - so erlebt man sich gegenseitig als Exotikum. Würden die Deutschen/West bei den inzwischen so beliebten Fahrten durch das neuerdings öfter wieder als „Zone“ bezeichnete Deutschland dort ein ehemaliges Konzentrationslager besuchen, sähen sie auf den ersten, zweiten und womöglich auch noch dritten Blick als einstige Insassen und Opfer dieser Lager Sozialisten und Kommunisten, also politische Gegner der Nationalsozialisten. Würden umgekehrt die Deutschen/Ost eines der westlichen Konzentrationslager besuchen, könnten sie selbst dort noch staunen, wie sehr im Westen alles anders ist: hier sind in den Lagern vor allem Juden umgebracht worden. Während es für den imaginierten Besucher aus dem Osten nicht ganz leicht ist, angesichts spärlicher Hinweise den Weg zu den ehemaligen Lagern zu finden - laut einer aktuellen Umfrage zum 25jährigen Bestehen der Gedenkstätte Dachau sind selbst unter den Besuchern dreißig Prozent dafür, die Gedenkstätte aufzulösen - in Dachau braucht man Platz für ein Bierzelt -, hat es sein westliches Pendant auf der Entdeckungsfahrt im Osten leichter. Die wegweisenden Schilder sind nicht zu übersehen, rote Winkel - daß sie rosa aussehen, ist nur dem natürlichen Verwitterungsprozeß sowie den bekannten ökonomisch-organisatorischen Problemen des Landes zuzuschreiben -, ursprünglich rote Winkel also, Kennzeichen der aus politischen Gründen Inhaftierten, zeigen, wo's lang geht.

Die Sache mit den Juden hat man östlicherseits ausstellungstechnisch und graphisch gelöst; auf Großfotos werden mit Vorliebe - angesichts der Masse von Inhaftierten ist eine Auswahl unumgänglich - jene Sozialisten und Kommunisten präsentiert, die überlebt und es im SED-Staat zu etwas gebracht haben. Auf den Tafeln, die Auskunft geben über die Zahl der in den Lagern mal mehr, mal weniger aktiv Getöteten, nehmen die mit dem roten Winkel markierten, also aus politischen Motiven Liquidierten, den ersten Rang ein. Die Zahlenangaben über jüdische Opfer rangieren weiter unten. Ihrer höheren Zahl wird man graphisch mit kleinerem Schriftgrad gerecht.

Das in erster Linie für Frauen reservierte Lager Ravensbrück zeichnet sich gegenüber Buchenwald und Sachsenhausen dadurch aus, daß man die „Gestaltung“ - der Begriff ist hier angemessen, nicht dem Anlaß, doch dem Ergebnis - der erhaltenen ehemaligen Zellen den kürzlich noch existierenden und befreundeten kommunistischen Parteien des westlichen wie östlichen Auslands überlassen hat. Daß dies zu einer wahrhaft erschütternden Inszenierung von KZ -Kitsch geriet - nun ja, es war ein Frauenlager...

Der Erfolg des östlichen Verfahrens mit den Resten der Konzentrationslager zeigt sich nun gleich doppelt: bislang konnte so der staatstragenden Ideologie der passende ursprüngliche Boden verschafft werden; noch nicht erledigt und damit zukunftsweisend ist ein in der Vergangenheit womöglich vernachlässiger Aspekt: aus dem Weg geräumt so auch das zentrale, bislang auch westlicherseits nur unbefriedigend gelöste Problem, nämlich das der Irrationalität, die ja darin bestand, möglichst alle Menschen eines bestimmten Glaubens oder einer konstruierten „rassischen“ Herkunft wegen, ohne jede andere Begründung, umzubringen: die Juden Europas. Daß Machthaber vermittels jeweils aktualisierter Verfahren sich ihrer politischen Gegner entledigen, folgt vergleichsweise den Regeln der Rationalität. Also: sind erst die Juden weg, verschwindet auch die einer rationalen Bewältigung des Problems so hinderliche Irrationalität. Falls doch, und dafür spricht derzeit ja manches, Bedürfnisse auf Irrationalem beharren, bietet sich dafür die anscheinend zeitlose nationale Begeisterung mehr als bloß ersatzweise an.

Und im Westen? An wen sollte man denn im Westen erinnern in den Konzentrationslagern, wußte man hier doch bereits zu der Zeit, als sie zur Besichtigung hergerichtet wurden - erst Mitte der 60er Jahre, zehn Jahre später als im Osten; zuvor brauchte man sie noch zur Unterbringung von „Heimatvertriebenen“ -, was man von Sozialisten und Kommunisten zu halten hat; Pfarrer christlicher Konfession als Opfer von Nationalsozialisten gab es nicht allzu viele, desgleichen „Widerstandskämpfer“ aus dem richtigen ideologischen Lager; mit Homosexuellen und Zigeunern hatte man nach wie vor seine Probleme - was blieb da noch. Die Juden eben. Das Irrationale an der Sache offenbarte im Westen dann auch seine nützlichen Seiten - es war eben einfach nicht zu verstehen. war man östlicherseits als Gesamtvolk Nachfolger der ehemaligen Opfer und lokalisierte die Erben der einstigen Täter im Westen, so wurde im Westen unversehens der alte Feind auch der neue; und befaßte man sich hier - wenn überhaupt, und wenn, dann nur widerstrebend - mit den ermordeten Juden, so geriet dies im Lauf der Jahre, Dank sei nationalsozialistischer Irrationalität der „Rasse“, zum gruseligen Gedenken an etwas ortlos Mythisches.

Aktuell ist nun die Frage: wie läßt sich etwas, was sicher in ganz spezifischer Weise mit den derzeit in beiden Deutschländern viel erwähnten jeweilig „gewachsenen Identitäten der letzten vierzig Jahre“ zu tun hat, verbinden und vereinheitlichen?

Sprachliche Anknüpfungspunkte gibt es bereits. Auch im Westen spricht man seit langem statt von Nationalsozialismus lieber von Faschismus; die Faschisten waren bekanntlich keine Antisemiten. und nun, da das östliche Deutschland das westliche bestimmt nicht mehr faschistisch nennen wird, kann es hierzulande um so leichter fallen, faschistisch zu nennen, was nationalsozialistisch war. Und daß die Sache mit Kommunismus und Sozialismus falsch ist, hat man spät, aber doch noch, auch im Osten endlich eingesehen. Und da es plötzlich weit und breit auch gar keine Kommunisten mehr gibt, bietet sich eine Zwischenlösung an. Erfahrene Westberliner Kulturinstitutionen führen im Martin-Gropius -Bau derzeit vor, daß und wie das geht: mit der unveränderten und unkommentierten Übernahme einer „historischen Dokumentation“ aus der DDR zum Konzentrationslager Buchenwald. Kommt man zunächst auf den Gedanken, Sinn der Sache sei die kritische Diskussion und Auseinandersetzung mit den blinden Flecken und Verdrängungsanstrengungen beider Seiten (im Austausch wurde die westliche Ausstellung „Topograpie des Terrors“ im Osten gezeigt), so belehren einen der Besuch der Ausstellung, die Lektüre des Katalogs sowie das begleitende Rahmenprogramm eindeutig des neuen gesamtdeutschen Einverständnisses. Man stellt sich gegenseitig keine unangenehmen Fragen. Im offenbar rege genutzten Besucherbuch fragt nur eine einzige Eintragung nach den in der Ausstellung „fehlenden Juden“.

Bedauert hat einer der Mitorganisatoren der Ausstellung lediglich, daß es aus Zeitgründen nicht mehr möglich gewesen sei, die „neuen“ Leichenfunde in Buchenwald - diesmal von den Sowjets zu verantworten - in die Präsentation miteinzubeziehen. Exakt in diesem, purer Zeitnot inmitten revolutionärer Umwälzungen und sonst nichts geschuldetem Mangel deutet sich wahrhaft genial die Erlösung von der Endlösung für die Gesamtdeutschen und ihre Konzentrationslager an. Fürs erste läßt man beiderseits, Verständnis füreinander ist gefragt, alles, wie es ist. Jedem das Seine - so lautet die eine Parole am Tor von Buchenwald.

Während dieser Übergangsphase werden täglich neue Massengräber der Sowjets entdeckt, die sich stets auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager befinden. Und was liegt näher, als dort künftig mit abschreckender, vereinigender Wirkung des Kommunismus zu gedenken, der uns das alles eingebrockt hat. Der Osten kann damit dem Westen beweisen, daß er es ernst meint mit der „Wende“, und der Westen hat bereits gelernt, daß sich besonders problemlos der Opfer gedenken läßt, die es nicht mehr gibt. Was für die Opfer galt, gilt künftig auch für die Täter: je weniger vorhanden, umso besser.

Marion Schmid

Lebt als Autorin in West-Berlin.

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