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Tränen und ein Trauermarsch

Die Löwen von 1860, Lieblinge der wahren Münchner Fußballfans, müssen wegen einem Törchen bei den Amateuren bleiben, während Großkapitalist Bayern durchgestylt die Meisterschaft feiert  ■  Aus München Peter Linden

Mit einem Auge hat der kühle Manager Uli Hoeneß sicherlich auf den Lokalrivalen geblickt. Zwar war alles bestens angerichtet zur großen Jubelfeier für den bundesdeutschen Fußballmeister FC Bayern: Das Spiel eigens verschoben, damit man am Nachmittag bei Sonnenlicht, ordentlich durchgestylt versteht sich, vom Rathausbalkon winken konnte. Umberto Tozzi geladen, Ricchi e Poveri dazu. Das Personal im Olympiastadion befugt, den Rasen stürmen zu lassen (was peinlicherweise zwei Minuten zu früh geschah), zwecks Demonstration überschäumender Freude des Münchners als solchem.

Aber am Abend davor spielte dummerlweise der Drittligist 1860 München um die Meisterschaft in der Bayernliga. Überschwenglichen Jubel hatte die Aufholjagd der Blau-Weißen ausgelöst, sieben Punkte Rückstand auf den FC Schweinfurt waren auf einen zusammengeschmolzen, schon drei Wochen vor dem entscheidenden Spiel waren alle 32.000 Tickets vergriffen.

Die Boulvevardzeitung 'tz‘ hatte erstmals seit Jahren in einer Montagsausgabe den FC Bayern von der letzten Seite verstoßen - der Bundesligatitel? Längst passe, ohnehin erwartet, alter Hut. Nationalmittelstürmer Rudi Völler, der vor neun Jahren in der zweiten Liga für 1860 gekickt hatte, ließ aus dem fernen Rom beste Wünsche übermitteln, nicht zum Meisterstück der Bayern, versteht sich.

Kurz vor dem Spiel des TSV 1860 München hatte es der große FC Bayern sogar nötig gehabt, energisches Interesse an Horst Schmidbauer zu bekunden, dem talentierten Offensivspieler der „Löwen“. „Um uns nervös zu machen“, mußtmaßte Trainer Karsten Wettberg, ein deutliches Zeichen aber auch, daß die Bayern nervös waren.

Denn auch sowas bleibt in den Köpfen kühler Macher hängen: Eineinhalb Wochen vorher, als mit dem 1:0-Sieg gegen St. Pauli die Meisterschaft perfekt gemacht worden war, gellten Pfiffe im Stadion, und gleich nach dem Schlußpfiff machten sich fast alle Zuschauer aus dem Staub. Das ZDF, gekommen eine Feier einzufangen, zoomte hilflos in der Südkurve herum, wo 20, 30 gröhlten: „We are the champions.“

Ein Tor fehlte, und Zehntausende hätten es eine Nacht lang durch die Innenstadt geschrien. 1:0 führte 1860 und 2:1, bengalische Feuer brannten, die alten Tribünen im kleinen Grünwalder Stadion vibrierten. In der 83. Minute der Ausgleich zum 3:3, nochmal Hoffnung, wenig später alles vorbei. Tränen, Sprechchöre „sechzig, sechzig, sechzig“, dann der Abmarsch, ein echter Trauermarsch.

Ein Alptraum für den FC Bayern, heute noch, acht Jahre nach dem Lizenzentzug für den weitaus populäreren Lokalrivalen. Wann immer Hoffnung keimt, daß es dem vom Schicksal arg gebeutelten TSV 1860 auch nur ein bißchen besser gehen könnte, strömen die Massen in Scharen, spielen die Medien verrückt. 1860 München hält mit 38.000 Zuschauern den Rekord für Amateurfußballspiele, 1860 München hat die meisten Fanclubs aller bundesdeutschen Vereine. Mehr als zwanzigmal in den acht Jahren der Drittklassigkeit zählte man 20.000 Zuschauer und mehr. Die Kehrseite: Zwölf Trainer wurden verschlissen, knapp 100 Spieler kamen und gingen, x Konzepte wurden durchprobiert, nie hat es gereicht.

Dennoch scheint der FC Bayern den vielen Anhängern des TSV 1860 keine annehmbare Alternative zu sein. Auch wenn alte Löwen-Fans gelegentlich dazu beitragen, das Olympiastadion zu füllen: Sie tun es nicht mit ganzem Herzen, eher wie jemand, der lange gehungert hat und wenigstens hin und wieder dabei sein will, wenn man sich richtig sattessen kann.

Diese Treue hat historische Gründe: 1860 München existiert 40 Jahre länger als der FC Bayern, 1860 ist im alten Stadtteil Giesing fest verankert, wie es sonst nur englische Vereine in ihren Vierteln sind. 1860 besitzt das Image eine Arbeitervereins, gehörte vor dem FC Bayern der Bundesliga an, stand vor dem FC Bayern in einem Europapokal-Finale (1965 gegen West Ham United). Auch war 1860 immer schon ein Verein des Breitensports und zählt heute noch mehr als doppelt so viele Sportabteilungen wie der FC Bayern.

Diese Treue resultierte in den vergangenen 25 Jahren aber auch aus einem unvegleichbaren Auf und ab. Kurz nach der Meisterschaft 1966 der Abstieg. Lange Zweitklassigkeit, rauf, runter, rauf, runter, dann ganz hinunter in die Bayernliga. Ein Verein wie das Leben des kleinen Mannes mit vielen Rückschlägen und wenigen Glücksmomenten.

Bayern dagegen? Nichts außer italienisches Großkapital scheint diesen Verein aufhalten zu können auf dem Erfolgsweg, der so einsam und konsequent beschritten wird, daß es schon gähnende Langeweile auslöst, selbst bei den alten Getreuen. Zum Jubelfest gegen Dortmund, das plangemäß 3:0 gewonnen wurde, kamen am Samstag nur 61.000 Zuschauer, bei früheren Gelegenheiten war das Olympiastadion dazu voll.

Das Schreckgespenst 1860 ist für ein weiteres Jahr gebannt, doch es sitzt den Bayern im Nacken. Nur mit immer mehr Erfolg wird man den Lokalrivalen im Hintergrund halten können, und Jupp Heynckes hat deshalb sicherheitshalber vom Rathausbalkon aus verkündet: „Ich verspreche, daß wir nächstes Jahr den Europapokal holen.“ Die einzige Chance, einem eventuellen Aufstieg von 1860 in die zweite Liga Paroli zu bieten.

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