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Wodka und Wohnungsnot

■ Über zwei sowjetische Filme

Es ist doch erstaunlich, daß in einem Land mit 20 Millionen Quadratkilometern Platz die Wohnungen so eng und knapp bemessen sind. Nach diesem Gegensatz läßt sich vielleicht sogar das sowjetische Kino kategorisieren: Die einen Regisseure stellen sich auf die 20 Millionen Quadratkilometer und vermischen die Miasmen, die davon aufsteigen, mit der Krume und dem Regen, der darauf herabfällt, zu einer dickflüssigen russiche Erde-Mystik Tarkowski wäre der Repräsentant dieser Tradition -, die anderen nehmen die 40-Quadratmeter-Wohnung mit drei Mietparteien zum Ausgangspunkt ihrer Parabeln. In diese eher städtische und realistische Linie gehören Pavel Lungin mit seinem Taxi Blues und der Kleine Vera-Regisseur Wassili Putschil mit seinem neuen Film Schwarz ist die Nacht über dem Schwarzen Meer. Taxi Blues ist Pavel Lungins allererster Film. Lungin, 42 Jahre alt und eigentlich Linguist, hat das Drehbuch 1987 geschrieben. Es geriet an den französischen Produzenten Marin Karmitz, der sich sofort entschloß, das Projekt zu finanzieren - unter der Bedingung, daß Lungin selbst Regie führt. Lungin besorgte sich russische Koproduzenten und drehte den Film im Sommer '89. Das Festival von Cannes nahm den Erstlingsfilm in den Wettbewerb auf und hat damit einen ähnlichen Coup gelandet, wie letztes Jahr mit Soderberghs Sex, lies and videotapes.

In Taxi Blues spielt Moskau die eine Hauptrolle - die großartigen, gähnend leeren Prospekte, die Müllhalden, Tiefgaragen, Lichtreklamen und eben die Wohnungen. Die anderen Hauptrollen spielen der brutale, engstirnige, antisemitische und doch sehnsüchtige, kunst- und freiheitsdurstige Taxifahrer Chlykow und der geniale, selbstzerstörerische jüdische Saxophonist Liocha (dargestellt vom russischen Popstar Piotr Mamanow, Sänger der Gruppe „Zvuki-mu“) - ein Film über die Haßliebe zwischen dem russischen Volk und den russischen Künstlern.

Putschils Film ist weniger pathetisch, aber ebenso tief melancholisch und burlesk. Er assoziiert in sehr lockerer Weise die Geschichten der Studentin Elena und des ältlichen Betrügers und Schwarzhändlers Stepanitsch, der ein junges Mädchen liebt. Die Geschichten berühren sich nur am Anfang, entwickeln sich auseinander und bündeln sich in Stepanitschs verzweifelt komischen Selbstmordversuchen, die Elena vereitelt. Auch in diesem Film kommt alles vor, was die russische Seele bewegt: Wohnungsnot, Schlangestehen, Pornografie, Mercedesse und Wodka aus Wassergläsern.

Thierry Chervel

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