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„Bonn muß die Militärhilfe an die Türkei einstellen“

Grüne Bundestagsabgeordnete Jutta Oesterle-Schwerin war im türkischen Teil Kurdistans / Dort werde ein „Krieg gegen die Zivilbevölkerung“ geführt  ■ I N T E R V I E W

Eine Delegation aus zwei grünen Bundestagsabgeordneten, einer AL-Politikerin, Menschenrechtlern und Anwälten aus der BRD besuchte in der vergangenen Woche den türkischen Teil Kurdistans, um sich über die Menschenrechtslage nach Verhängung des Kriegsrechtes zu informieren. Jutta Oesterle -Schwerin gehörte zu der von medico-international organisierten Gruppe.

taz: Wie waren Ihre Arbeitsmöglichkeiten in Kurdistan?

Jutta Oesterle-Schwerin: Äußerst schwierig. Wir konnten keine offenen Gespräche mit Gewerkschaftern, Bürgermeistern oder mit Kandidaten der Kommunalwahl führen, weder in öffentlichen noch in Privathäusern. Kaum wollten wir so einen Termin beginnen, kam ein Polizist in Zivil, bewaffnet und mit laufendem Tonband in den Raum und beharrte darauf, die Gespräche aufzunehmen. Unsere Dolmetscherin fing dann sofort an, über das Wetter zu reden.

Wie haben Sie sich unter diesen Umständen Informationen beschafft?

Durch Gespräche mit Anwälten - in die Anwaltsbüros kam die Polizei nicht rein, sie postierte sich immer außerhalb. Durch Gespräche, die wir im Hotel in Diyarbakir geführt haben und durch Begegnungen mit Bauern, die wir in unserem Wagen mitnahmen.

Würden Sie sagen, daß in türkisch Kurdistan ein „Bürgerkrieg“ stattfindet?

Ich würde sagen, daß dort ein Krieg gegen die Bevölkerung stattfindet. Man konnte keine 20 Kilometer fahren, ohne von der Armee angehalten zu werden. Ich habe nicht gesehen, daß die BürgerInnen kämpfen, sondern daß die Armee überall präsent ist und auch uns nicht frei bewegen ließ.

Können Sie das Ausmaß des Volksaufstandes beurteilen?

Durch Augenzeugenberichte. Es müssen Riesendemonstrationen gewesen sein in Cizre und Silopi, wo die Polizei teilweise in die Menge geschossen hat. Anlaß war ja die Beerdigung von einem Erschossenen in Nusaybin, von dem das Militär später behauptete, er sei ein PKKler gewesen.

Wie ist das Verhältnis der kurdischen Bevölkerung zu der bewaffneten Organisation PKK?

Die tatsächliche Rolle der PKK kann ich nicht beurteilen, weil ich das Gefühl hatte, daß die Menschen uns das nicht sagen. Weder haben sie sich über die PKK beklagt, noch haben sie gesagt, daß die PKK ihre Führungskraft sei.

Hatten Ihre Gesprächspartner Angst, über die PKK zu sprechen?

Ja. Denn da stehen ja 15 Jahre Gefängnis an, und woher wissen die Leute, daß sie uns vertrauen können?

Wie offen waren die Berichte über Militäreinsätze?

Sehr offen. Wir haben zum Beispiel Menschen getroffen, deren Dörfer von der Armee geräumt wurden und die jetzt vom Betteln leben. Die haben uns erzählt, wie sie vertrieben worden sind.

Haben Sie Informationen, ob in Kurdistan deutsche Waffen eingesetzt werden?

Es gibt ja die Militärhilfe, diese 280 Millionen Mark im Jahr im Rahmen der Militärsonderhilfe, die die Bundesregierung der Türkei gewährt, zusätzlich zu den Nato -Verpflichtungen. Das sind hauptsächlich ausrangierte Waffen der Bundeswehr, die dorthin geschickt werden. Ich nehme nicht an, daß die für etwas anderes benutzt werden.

Wie wirkt das Notstandsdekret, das die türkische Regierung über Kurdistan verhängt hat, im Rest des Landes?

Es herrscht eine absolute Pressezensur. Man darf nicht aus dem Gebiet berichten und man darf in anderen Teilen der Türkei auch nicht über das Gebiet berichten. Wir haben am letzten Tag eine Pressekonferenz in unserem Hotel in Istanbul gegeben. Darüber erschien in der nationalen Ausgabe der Zeitung 'Cumhuriyet‘ nichts; in der Ausgabe vom gleichen Tag, die im Flugzeug verteilt wurde, erschien ein kurzes Stück.

Wie sollte sich Bonn verhalten?

Als erstes muß die Bundesregierung jegliche Waffenlieferungen stoppen. Dabei kann sie sich nicht auf ihre Nato-Verpflichtungen berufen, das ist ein Militärsonderhilfeabkommen und kann sofort gestoppt werden. Zweitens bin ich auch der Meinung, daß man die Beteiligung an dem GAP-Projekt (Riesenstaudamm im - türkischen Quellgebiet von Euphrat und Tigris. Anm. d. Red.) tunlichst lassen sollte. Ich halte das Projekt ökologisch für äußerst schädlich. Schon sehr viele kurdische Dörfer haben ihren Grund und Boden durch die Überschwemmungen verloren. Es hat auch überhaupt keinen Sinn, Flüchtlingshilfe über die türkische Regierung zu leiten.

Hat die Regierung Gelder unterschlagen?

Es gibt ja unter anderem ein Flüchtlingszeltlager südlich von Mardin (für kurdische Flüchtlinge aus dem Irak. Anm. d. Red.). Dafür hat die Bundesregierung eine Million Mark gegeben, angeblich für die Zelte in diesem Lager. Unsere Gesprächspartner rechneten uns vor, daß die Zelte höchstens 250.000 Mark gekostet haben.

War die deutsche Botschaft in Ankara an Ihren Reisevorbereitungen beteiligt?

Wir haben der Botschaft mitgeteilt, daß wir kommen. Und die Botschaft hat uns vor der Reise gewarnt. Wir müßten mit Ausweisung oder Festnahme rechnen. Das ist natürlich nicht eingetroffen, weil wir Diplomatenpässe hatten. Aber die Situation ist so schlimm, daß so etwas passieren kann.

Interview: Dorothea Hahn

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