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KLARTRÄUME

 ■  Die Welt als Wille und Spätvorstellung

Die Forscher streiten sich noch um die Terminologie, doch über die fünf Kriterien, die ein Klartraum (lucid dream, high dream) erfüllen muß, herrscht Einigkeit:

1. Die träumende Person ist sich vollständig darüber im klaren, daß sie träumt;

2. Ist ihr Bewußtseinszustand in keiner Weise eingetrübt und liegt nicht selten sogar über dem Niveau des normalen Wachzustandes;

3. Funktionieren alle fünf Sinne dem subjektiven Erleben nach genauso gut wie im Wachzustand;

4. Existiert dabei sowohl eine uneingeschränkte Erinnerung an das bisherige Wach- und Klartraumerleben als auch

5. Ein klares Bewußtsein der eigenen Entscheidungsfreiheit.

Klarträumen heißt mit anderen Worten, daß sich die träumende Person vom Hauptdarsteller eines chaotischen Traumgeschehens zum Regisseur einer bewußten Inszenierung wandelt, in der sie gleichwohl immer noch die Hauptrolle spielt. Und zum Beispiel, wie weiland Heinz Rühmann im Film mit dem Kopf durch die Wand geht und den Chef erschreckt - statt wie bisher, von gar finsteren Mächten und Autoritäten gepeinigt, naßgeschwitzt aus einem Alptraum aufzuwachen...

Im ersten „Somnambulen Salon“, zu dem Micky Remann zu nächtlicher Stunde in ein Frankfurter Cafe geladen hatte, stand einer der raren Fachkundigen auf diesem Gebiet, Dr.Thomas Metzinger, Rede und Antwort. Der Klartraumforscher, der an der Uni Gießen dem ontologischen Pingpong zwischen Gehirnstruktur und Bewußtseinszuständen auf der Spur ist, begann mit einer äußerst ermutigenden Eröffnung: Das luzide, bewußtseinszustandsklare Träumen ist ein seit Jahrtausenden bekanntes Phänomen und jeder kann es lernen. Die einfachste Methode ist die, sich anzugewöhnen, täglich 8-15 mal einen Realitäts-Check durchzuführen: Ich bin wach, es ist Sonnabend 17 Uhr, ich sitze am Schreibtisch und schreibe einen Artikel, in meiner Umgebung ist alles normal, nichts Ungewöhnliches zeichnet sich ab, draußen regnet es, ich kaue hektisch ein Kaugummi, weil ich nicht rauchen will, dies ist die Wirklichkeit...

Wenn mir diese Art von Zustandsüberprüfung nach etwa 3 Monaten in Fleisch und Blut übergegangen ist, besteht die Möglichkeit, daß ich einen solchen Realitäts-Check einmal während eines Traums durchführe - und dann eben plötzlich feststelle, daß ich nicht wach bin, sondern träume. Mit diesem Bewußtwerden, einem „Aufwachen“ während der Realkörper weiterschnarcht, beginnt der Klartraum - und damit die Möglichkeit, Personal und „Action“ des Traumgeschehens selbst zu bestimmen. Geübte Klarträumerinnen (Frauen sollen es übrigens leichter lernen können als Männer) verschaffen sich erstmal ein paar Orgasmen, deren Lustgefühle es durchaus (siehe oben, Punkt 2 und 3) mit denen des Wachzustands aufnehmen können, um sodann den Erlebnisraum Traum nach Gusto und Bedarf zu nutzen - für Diskussionen, Abenteuer und Experimente aller Art.

So schwierig die Technik des bewußten Träumens zu erlernen ist, so leicht ist es, einen Klartraum zu beenden: wer seine ausgestreckten Hände oder irgendeinen anderen Gegenstand fest fixiert, beendet die Phase des Rapid Eye Movement und wacht auf. Thomas Metzinger berichtete in diesem Zusammenhang kurz von einem unlängst in USA durchgeführten Experiment: dem Live-Bericht eines Klarträumers über seinen Traum, den er mit Augenbewegungen in Morseschrift durchgab, sie wurden von Detektoren auf den Lidern des Schlafenden aufgezeichnet.

Für die Traumforschung besonders interessant ist ein Volksstamm in Malaysia, der normale Realität und Traum -Realität als völlig gleichberechtigt betrachtet und seine Kindern von klein an zum Klarträumen anleitet. So wird ihnen beigebracht, daß, wenn sie im wirklichen Leben einen Tiger sehen, sie wegrennen und das Dorf vor ihm warnen müssen. Begegnet er ihnen aber im Traumleben, sollen sie stehenbleiben, den Tiger scharf anschauen und ihn zwingen, ihnen Geschenke zu bringen. Es überrascht nicht, daß in diesem Volk Gewaltverbrechen fast nie vorkommen und Geisteskrankheiten nahezu unbekannt sind: wer ein solches Doppelleben führt, kann in der somnambulen Spätvorstellung bei völlig klarem Bewußtsein all das ausleben, was tagsüber aufgrund der Gesetze der Physik, des Sozialen und anderer Hemmnisse völlig unmöglich ist. Wir werden demnächst ausführlicher über den Klartraum (und die Frage nach der Notwendigkeit, seine Techniken als Hauptfach an Grundschulen einzuführen) berichten. Interessierte sollten sich bis dahin vielleicht stündlich einmal fragen, ob sie wach sind und dies hier wirklich die Wirklichkeit ist. Oder am Ende nur ein schlechter Film? Die Vorstellung, daß wir auch im Wachzustand eigentlich noch schlafen, ist die einzige Entschuldigung für die verluderte Dumpfheit, mit der die Menschheit über den Planeten torkelt.

Mathias Bröckers

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