: Friedensvertrag als Ausweg?
Auferlegte Souveränitätseinschränkung oder freiwilliger Souveränitätsverzicht ■ K O M M E N T A R E
Seit 1945 sind die wenigsten Kriege durch förmliche Friedensverträge beendet worden. An die Stelle der schwierigen Kunst des Friedensschlusses traten Formelkompromisse und der Lauf der Zeit, die „normative Kraft des Faktischen“. Speziell in bezug auf Deutschland, wo die Zweistaatlichkeit und die Einbeziehung in gegensätzliche Militärblöcke als Garantien der internationalen Stabilität angesehen wurden, erschien die Idee eines Friedensvertrages obsolet. Das änderte sich mit dem Zerfall des Gleichgewichts der Supermächte in Europa. Nachdem „die Geschichte“ die Hundertjahresfrist weit unterschritten hat, die Gorbatschow noch vor zwei Jahren für die Erledigung der deutschen Frage prognostiziert hatte, geriet die sowjetische Politik unter Zeitdruck. Zwischen dem Tempo des Einigungsprozesses und der Zeit, die für die Auflösung der Militärblöcke und ein neues kollektives Sicherheitssystem veranschlagt wird, ist der Abstand immer größer geworden. Angesichts der westlichen Maximalposition zog die Sowjetunion die Notbremse Neutralität des vereinten Deutschland. Nicht nur die Westmächte wiesen diesen Vorschlag zurück, auch die Verbündeten im Warschauer Vertrag desertierten.
Ein Ausweg aus dem sowjetischen Dilemma bestünde darin, sofort den Charakter der Militärbündnisse zu ändern und mit dem Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen zu beginnen - das ist die Linie des Dienstbier-Memorandums. Die Zwei-plus-vier -Konferenz würde alle Deutschland betreffenden Fragen aushandeln und eine Helsinki-II-Konferenz sie ratifizieren. Auf dieser Konferenz wären internationale Grenzanerkennungsverträge abzuschließen und die ersten gesamteuropäischen Institutionen - Sicherheitsagentur, Europäischer Rat - zu begründen. Der Vorteil dieses Verfahrens: die Lösung der deutschen Frage würde zum Katalysator der europäischen Einigung, die Nato -Mitgliedschaft des vereinten Deutschland wäre vorübergehend und würde ein für die SU ungünstiges Kräfteverhältnis nicht zementieren. Die Sowjetunion scheint ein solches Projekt und den mit ihm verbundenen Zeitplan für unrealistisch zu halten.
Auf der Gedenkveranstaltung zur Niederwerfung Nazi -Deutschlands im Moskauer Bolschoi hat Gorbatschow den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland gefordert. Die sowjetische Diplomatie hat dann in den letzten Tagen einige präzisierende Details durchsickern lassen. Inhalt des Vertrages sollen die Anerkennung der Grenzen, die Bestätigung eingegangener Verpflichtungen und die Festlegung des künftigen militärischen Status von Deutschland sein. Vertragspartner Deutschlands wären die vier Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition und diejenigen Staaten, die Opfer der deutschen Aggression geworden sind. Zur umstrittenen Kernfrage, dem künftigen militärischen Status, will die Sowjetunion neben dem Verzicht auf Massenvernichtungswaffen eine Formel, nach der Deutschland künftig „jeder militärischen Tätigkeit gegen Dritte“ entsage. Falls damit selbständige deutsche Aggressionen gemeint sein sollten, ist die Formel überflüssig, denn beide deutsche Staaten sind in Helsinki entsprechende Verpflichtungen eingegangen, die völkerrechtlich einfach weitergelten. Wenn damit gemeint sein sollte, Deutschland sollte, unter welchen Bedingungen und Bündniskonstellationen auch immer, auf jede Waffengewalt verzichten, ist der Vorschlag absurd. Denn auch ein neues kollektives Sicherheitssystem in Europa würde Beistandsverpflichtungen gegenüber möglichen Aggressionen enthalten, die alle Vertragsstaaten - also auch Deutschland
-verpflichten würden. Was bislang diskutiert worden ist, um die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands zu entschärfen radikale Abrüstungsschritte im konventionellen und nuklearen Bereich, Änderung der Strategien - ist viel effektiver als der neue sowjetische Vorschlag.
Auch der geplante Teilnehmerkreis wäre ein Rückschritt gegenüber dem KSZE-Rahmen. Er würde die Verbindung zwischen der Regelung der deutschen Frage und dem Aufbau gesamteuropäischer Institutionen zerschneiden. Sein einziger Vorteil bestünde darin, daß Entschädigungsansprüche mit einiger Aussicht auf Erfolg vorgebracht werden könnten. Zu Zahlungen an die Opfer der Naziaggression und deren Nachkommen könnte Deutschland aber auch im Rahmen der Helsinki-II-Konferenz verpflichtet werden.
Gegen das Projekt eines Friedensvertrags der 16 zu argumentieren, bedeutet noch lange nicht, die Position Kohls oder auch Genschers zu teilen. Besonders penetrant an der Haltung der westdeutschen Regierung ist ihr Beharren auf „voller Souveränität“. Wenn die kraft genuinen Besatzungsrechts bestehenden Rechte der Allierten abgelöst sein werden, wird Deutschland nicht souverän sein, sondern eingebunden in ein europäisches System, das im militärischen Bereich supranationalen Behörden souveräne Rechte gibt. Wie Ludwig Mehlhorn von DemokratieJetzt es kürzlich formulierte: „An Stelle der auferlegten Souveränitätseinschränkung muß der freiwillige Souveränitätsverzicht treten.“ Billiger ist die Einheit nicht zu haben.
Christian Semler
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