: Schwunghafter Handel mit falschen Vorfahren
Tausende von PolInnen kauften sich gefälschte Papiere, um als Vertriebene anerkannt zu werden / Viele werden wieder ausgewiesen / Fälschungen häufig auf Grund alter Nazi-Dokumente / Fälscher arbeiten schon seit sieben Jahren ■ Von Bettina Markmeyer
Essen (taz) - Um als Deutschstämmige in der BRD aufgenommen und als Vertriebene behandelt zu werden, haben vermutlich Tausende von PolInnen Fälschern von Ausweispapieren und Urkunden zu erklecklichen Einnahmen verholfen. Zwischen 6.000 und 15.000 D-Mark pro Person kassierten vier vorwiegend in Bochum und Dortmund tätige Fälschergruppen dafür, ihren KundInnen auf dem Papier deutsche Vorfahren zu verschaffen. Zwei von insgesamt etwa zwölf Verdächtigen, so das Landeskriminalamt (LKA), wurden inzwischen vom Bochumer Landgericht zu fünf bzw. sieben Jahren Haft verurteilt. Sowohl die Tätigkeit der Fälscher als auch die Ermittlungen erstrecken sich auf das ganze Bundesgebiet, Schwerpunkt ist das Ruhrgebiet.
Wegen Urkundenfälschung, Betrugs und Vergehens gegen das Bundesvertriebenengesetz müssen sich auch die BenutzerInnen der gefälschten Papiere vor Gericht verantworten. In Bochum sind derzeit 600 Verfahren anhängig. Auch in anderen Städten wird gegen die Vertriebenen mit falschen Papieren ermittelt. Bestätigt sich der Verdacht gegen sie, werden die bundesdeutschen Ausweise und der Vertriebenenausweis eingezogen. „Die Polen“, so ein Sprecher des Bochumer Sozialamts, „fallen dann wieder in den Ausländerstatus zurück.“ Sie bekommen dann keine Arbeitserlaubnis. 50 PolInnen hat das Bochumer Ausländeramt bereits ausgewiesen, von 250 die Ausweise wieder eingezogen. Nach Angaben des Amtes werden alle ausgewiesen. Verurteilt sind von den BenutzerInnen falscher Papiere inzwischen zehn. Sie müssen für acht Monate bis eineinhalb Jahre ins Gefängnis.
Gefälscht wurden entweder die aktuellen polnischen Personenstandsurkunden oder die zumeist aus der Nazizeit stammenden deutschen Dokumente, um eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen den Ausreisewilligen und angeblich deutschstämmigen Vorfahren zu belegen. Um als Vertriebene anerkannt zu werden, müssen AussiedlerInnen ihre eigene oder die Deutschstämmigkeit ihrer Vorfahren belegen. Häufig seien, so der Leiter der Ermittlungskommission beim LKA, Horst-Detlef von Roeder, sogenannte Volkslistenausweise auf die Namen der Vorfahren von ausreisewilligen PolInnen gefälscht worden. Über die Volkslisten selektierten die Nazis ab 1939 in den annektierten polnischen Gebieten die Bevölkerung nach ihrer „Zugehörigkeit zum deutschen Volk“. Um dazuzugehören mußte in erster Linie „ein Bekenntnis zum Deutschtum“ vorliegen. Nach dem häufig erzwungenen „Bekenntnis“ ihrer Vorfahren wird auch heute noch über die Deutschstämmigkeit Ausreisewilliger entschieden. Eine äußerst umstrittene Praxis, da sie Nazi-Kriterien zum Ausgangspunkt für Vergünstigungen macht.
Die bevorzugte Aufnahme von AussiedlerInnen als deutschstämmige Vertriebene läßt sich die Bundesregierung immer noch Millionen kosten. Für „waschechte Polen“, oder wie der Leiter der LKA-Ermittlungskommission von Roeder an anderer Stelle formulierte, „reinrassige polnische Staatsangehörige“ gelten die Vorzüge nach dem Vertriebenengesetz nicht. Sie sind AusländerInnen. Offenbar weil immer neue Fälschungen bekannt werden und „die finanziellen Vorteile des Bundesvertriebenenausweises sich je Person auf mehrere 100.000 DM belaufen können“, so LKA und Bochumer Staatsanwaltschaft in ihrer Presseerklärung, gingen die Behörden jetzt an die Öffentlichkeit.
Die Ermittlungen laufen bereits seit 1987. Seit sieben Jahren sind die Aktivitäten von Fälschern bekannt. Daß, wie gemeldet, inzwischen 80.000 bis 100.000 PolInnen mit gefälschten Papieren als Vertriebene in der BRD leben, bestätigte von Roeder gestern auf Anfrage der taz so nicht. Die genannte Zahl gehe vielmehr auf die Aussage eines Zeugen zurück, nach dessen Einschätzung der Situation in Polen auf die Fälscherringe von Bochum und Dortmund etwa soviele Fälle zurückgehen könnten. „Genaue Zahlen für die Bundesrepublik habe ich nicht“, sagte von Roeder gestern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen