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Lokal und universal!

Ein Pariser Plädoyer wider die Europäisierung der Kultur  ■  E U R O M U F F E L

Gibt es eine europäische Kultur? Natürlich. Gemeinsame Religionen und gemeinsam durchlebte Massaker, verwandte Sprachen, ein gleichermaßen gemäßigtes Klima, ein gleiches Niveau an Zivilisation, Technologie, politischer Entwicklung - ja, all das berechtigt schon, von europäischer Kultur zu sprechen. Aber muß man sich deswegen für sie einsetzen? Nichts ist sicherer als das.

Wo auch immer man hinhört, überall in Europa plädieren die Künstler, die Filmemacher und Theaterleute für die Verteidigung der nationalen Besonderheiten. „Schließen wir uns zusammen, um unsere Verschiedenheiten zu verteidigen!“, sagt Jack Ralite, der Animateur der „Generalstände der Kultur“, einer informellen Bewegung, das als Ad-hoc-Forum vor zwei, drei Jahren gegründet worden ist und seither versucht, den Kampf gegen das Kulturbusineß und für die kulturellen Besonderheiten auf alle Länder auszudehnen. Oder nehmen wir Ettore Scola: „Ich bin intelligenter, wenn ich in meiner Muttersprache denke.“ Nein, es ist Unsinn zu glauben, daß eine gemeinsame Sprache für ganz Europa (das Amerikanische?) und ein „typisch europäisches“ künstlerisches Produkt, das sich in Apulien, den Hansestädten und der Provence gleichermaßen verkaufen ließe, wirklich ein Fortschritt wäre. Die kulturelle Vereinheitlichung wird mehr und mehr als eine Gefahr für die Menschen empfunden. Die Spezialisten in Sachen Flora und Fauna sehen in dem Verschwinden einer Tier- oder Pflanzenart ein Drama, das die Ökologie gefährdet. In der Vielfalt liegt die Überlebenschance - so die Botschaft der Biologen und Ethnologen. Wenn wir uns in Frankreich dafür eingesetzt haben, daß in den europäischen Fernsehsendern Quoten für nationale Produktionen festgelegt werden, dann deswegen, weil wir eine europäische Minderkultur ablehnen, die sich aus amerikanischen und japanischen Minderprodukten zusammensetzt. Nur die Industriellen kämpfen für die „europäische Kultur“. Aus Geschäftsinteresse, zweifellos.

Die eigentliche Frage ist: Wie kann man es anstellen, daß aus den Unterschieden keine Gräben werden, sondern Chancen zur Bereicherung? Es muß dafür gesorgt werden, daß noch mehr Leute an jedem kulturellen Reichtum teilhaben können. Also: mehr Wörter, mehr Szenarios, mehr verschiedene Dekors. Enrichissez-vous! Das verlangt natürlich Organisierung. Aber gewiß keine europäischen Produktionssysteme: ein bayerisches Drehbuch, einen irischen Dialogschreiber, italienisches Dekor gedreht in Budapest von einem französischen Regisseur und mit belgischen Schauspielern, die eigentlich in Tirol leben... Dadurch entsteht keine „europäische Kultur“. Dagegen Marcel Pagnol! Vermeer! Kant!

-Das Universelle im Lokalen. Jacques Bertin, Chansonnier und Kulturche

der Pariser Wochenzeitung 'Politis

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