: CHAOS STATT WOHLSTAND ?
■ Tourismusexperten aus Ost und West diskutierten in Freudenstadt im Schwarzwald über Möglichkeiten und Gefahren des Tourismus in einem „neuen Europa“
Wenn Jürgen Wolff über das Reisen in Osteuropa nachdenkt, tut er dies nicht ohne Bauchschmerzen. Als Leiter der Hauptabteilung Tourismuspolitik im Ostberliner Handelsministerium ahnt er die handfesten Probleme, die durch den rasanten Anstieg des West-Ost-Reiseverkehrs auf die DDR zukommen werden. „Die DDR hatte bisher keine effektive Tourismuswirtschaft, wie sie in anderen europäischen Staaten existiert“, bekennt er freimütig. Die Zahlen sprechen für sich: Es stehen lediglich knapp 80.000 Betten zur Verfügung, davon lediglich 17.000 mit internationalem Standard in Interhotels. Hinzu kommen etwas mehr als 16.000 volkseigene Gaststätten und 11.000 private Kneipen. Nun droht ein wahrer Ansturm an Touristen die DDR zu überrollen. Laut Umfragen wollen allein in diesem Jahr 5,5 Millionen BundesbürgerInnen in Ostdeutschland einen mehrtägigen Urlaub verbringen. Fazit der Verantwortlichen in der DDR: Das Land ist für diesen Besucheransturm nicht gewappnet.
Wird mit dem Massentourismus in Osteuropa eher das Chaos als der damit erwartete Wohlstand einziehen? Gemischte Gefühle legen zumindest Fremdenverkehrsfachleute aus Ost und West an den Tag. Im Schwarzwaldstädtchen Freudenstadt diskutierten rund 170 ExpertInnen aus 17 Ländern eine Woche lang Entwicklungsmöglichkeiten und Gefahren des Tourismus in einem „neuen“ Europa - zum ersten Mal nach Jahrzehnten der Konfrontation. Der von der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltete Kongreß sollte aber auch deutlich machen, daß dem Fremdenverkehr eine „Pionierrolle“ bei der zukünftigen Kooperation der Völker zukommt und einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten kann. Schließlich ist „Reisefreiheit“ das Wort des Jahres. Veränderte Reiseströme
Wenn auch nicht von einem Tag auf den anderen, der Tourismus gen Osten wird sich nach der Öffnung der Grenzen grundlegend verändern. Während in der BRD der Massenansturm hinter den einst Eisernen Vorhang einsetzt, lautet das Reisemotto nicht nur der DDR-BürgerInnen „go west“. Die Veränderungen der Reiseströme in einem neuen Europa bringen einen Strukturwandel des Tourismus vorwiegend in den osteuropäischen Staaten mit sich: Mehr UrlauberInnen aus sogenannten „Hartwährungsländern“, auf deren Bedürfnisse und Ansprüche sich sowohl Reiseveranstalter als auch die sich im Aufbau befindliche Tourismusindustrie in Ländern wie Bulgarien, Polen, Tschechoslowakei oder der Sowjetunion einrichten müssen.
„Reisen ist eine sehr empfindliche Ware, auf die die Kundschaft äußerst sensibel reagiert“, weiß Albrecht Feibel, Vorsitzender des Bundesverbandes Mittelständischer Reiseunternehmen, aus eigener Erfahrung. Mit mehr TouristInnen aus „Hartwährungsländern“ wird aber auch die Hoffnung verbunden, ein neues „Wirtschaftswunder“ einleiten zu können. Tourismus bringt rasch harte Devisen ins Land und kann eine ökonomische Vorreiterrolle übernehmen. So gilt denn auch die noch nicht gelöste „Devisenfrage“ im Zusammenhang mit einer Konvertierbarkeit der Ostwährungen derzeit als eines der zentralen Probleme. Ungarn, das die größte Erfahrung mit Westurlaubern hat, zog daraus bereits Konsequenzen: Es will von Rubelverrechnungseinheiten auf harte US-Dollar umstellen.
Die Umstellung auf die „freie“ Marktwirtschaft birgt Gefahren. Die meisten Betriebe wirtschaften unrentabel. Es wird damit gerechnet, daß die unvermeidbaren höheren Betriebskosten bei kostendeckenden Preisen den bisherigen Preisvorteil gegenüber westeuropäischen Ländern wieder auffressen. Durchsetzen werden sich aber gerade Angebote mit dem „überzeugendsten“ Preis-Leistungs-Verhältnis und einem standortgemäßen, ausgewogenen Programm. An eben solchem fehle es gänzlich, bemängeln die Reiseveranstalter - aus Unkenntnis der genauen Zielgruppe. Da nützen auch fromme Appelle an die Adresse der Reisebranche wenig, man müsse in der Touristikwirtschaft umdenken. Um negative Folgen einer drohenden Konkurrenz auch untereinander abzuwehren -wie sie etwa an „abgerutschten“ Feriengebieten deutlich zu sehen sind-, sind nach Auffassung der Fachleute dringend Marktanalysen erforderlich, bevor in den Urlaubsgebieten einfach drauflosgebaut wird. Und: Zum Aufbau der Infrastruktur gehört Planung, sollen die im Westen begangenen Betonbunkersünden a la Costa Brava nicht wiederholt werden. Ein wenig Kosmetik, die den drohenden Wildwuchs von Rügen bis ans Schwarze Meer verhindern soll. Sanfte Erschließung?
Daß es in den RGW-Staaten aber nur „nachzuholen“ gäbe, damit sie „Westniveau“ erreichen und dem Massenansturm der nächsten Jahre gewappnet gegenüberstehen - damit räumten die DDR-Verantwortlichen um den neuernannten Staatssekretär im Ministerium für Handel und Tourismus, Bruno Benthien, zunächst einmal auf. „Nichts aus dem Ruder laufen lassen“, lautet ihre Devise, und Massentourismus komme für die DDR nicht in Frage. Das Land, in dem jährlich allein über zehn Millionen BürgerInnen Inlandsferien machen, konnte mit Ostsee und Mittelgebirge bereits im vorigen Jahrhundert beliebte Reiseziele aufweisen. Doch die zu SED-Zeiten „verfehlte Tourismuspolitik“ setzte fast ausnahmslos auf das „staatlich gesteuerte Erholungswesen“. Daher hinkt die Infrastruktur. Aber einfach losklotzen will man dort keinesfalls. „Wir müssen zu einem sanften Tourismus kommen“, fordert Benthien. Dafür will er „Reservate“ ausweisen lassen, um die „Grenzen der Belastbarkeit“ zu fixieren beispielsweise an den Mecklenburger Seen. Die fast zehn Prozent der Landesfläche einnehmenden Schutzzonen sollen ebenfalls Tabuzonen für Investoren bleiben. Zudem will die DDR auf spezifisch-touristische Leistungen mit sozialem Charakter wie Senioren- oder Behindertenurlaub setzen. Das Tourismusgewerbe, so der Ministerialbeamte Wolff, müsse „durch behutsame dirigistische Maßnahmen in territorial und sachlich richtige Proportionen gelenkt werden“ - solange „die“ Marktgesetze noch nicht voll wirksam sind. Doch der Traum wird wohl Illusion bleiben, wo die Tourismusindustrie gerade beginnt, ihre Claims abzustecken.
Erwin Single
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