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Parties, Porno, Professoren

■ Malcolm Bradburys Soziologensatire „Der Geschichtsmensch“ und Ernst-Wilhelm Händlers logico-philosophischer Roman „Der Kongreß“

Zwei akademische Romane sind anzuzeigen: „Der Geschichtsmensch“ und „Der Kongreß“. Beide sind im verminten Gelände der Fachbereichskonferenzen, Seminare und Kongresse angesiedelt, wo die angestellte Intelligenz ihre Schaukämpfe und ihre Bücherembryos austrägt. Beide folgen ihren professoralen Helden auch zum privatissime nach Hause, wo die reine Theorie sich meistens an der Notdurft des Alltags blamiert. Und doch sind die beiden Romane denkbar verschieden. Der Debütroman von Ernst-Wilhelm Händler ist ein sehr deutscher Tractacus logico-philosophicus, staubtrocken und von unerbittlichem Ernst; der Roman des Engländers Malcolm Bradbury dagegen eine brillante Satire auf die dreisten Tricks und Bluffs der Hochschulrevoluzzer, der Soziologen zumal.

Leute wie die Kirks gab es in den 70er Jahren massenhaft. Es war die Zeit, als es noch eine intakte Utopie und eine Geschichte gab, oder jedenfalls Strategen der Revolution, die sie dirigieren und forcieren zu können wähnten. Howard Kirk, einer von diesen agilen Geschichtsmenschen, ist Soziologie-Dozent an der kleinen, auch architektonisch progressiv-dynamischen Universität Watermouth, also schon von Berufs wegen radikal. Der Autor vieldiskutierter Bücher über die sexuelle Revolution doziert vor der „revolutionären Studentenfront“ über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes; er ist gerngesehener Gast in der Medienschickeria, in Bürgerinitiativen und in Selbstverwirklichungs -Encountergruppen. Studenten mit konservativen Bügelfalten (in der Hose oder im Hirn) jagt er erbarmungslos aus seinen Seminaren hinaus. Natürlich hat er sich mit seiner Gattin Barbara auf eine offene Zweierbeziehung geeinigt; als Märtyrer der sexuellen Befreiung treibt er es aus Prinzip mit pummeligen Babysitterinnen und kongenial zynischen Kolleginnen. Barbara, auch ohne Theorie emanzipiert, nimmt ihrerseits, wenn sie zum Shopping nach London fährt, einen Quickie in Schauspielerkreisen mit. Die Kinder protestieren gegen den morgendlichen „Cornflake-Faschismus„; aber in der Kiefernholzküche der Kirks wird alles gnadenlos ausdiskutiert. Man heiratet, um Ehebruch begehen zu können. Man braucht die Reaktionäre, um sich kämpferisch an ihnen abarbeiten zu können. Die Kirks genießen alle Nachteile und leiden schwer unter den Privilegien ihrer bürgerlich -akademischen Existenz.

Geschichte wird gemacht; notfalls hilft Howard „den Betrieb ankurbeln“. Nichts schöner, als dem Fortschritt mit ein paar Intrigen auf die Sprünge zu helfen. Meistens funktioniert sein voluntaristischer Fatalismus: Howard lanciert etwa das Gerücht, ein „Rassist“ wolle eine Gastvorlesung halten; die Idee materialisiert sich, der Aufruhr ist da. Schade nur, daß Howards alter Freund Henry Beamish - ein liebenswürdiger Unglücksrabe, rettungslos verheiratet und überhaupt liberal vertrottelt - das Pech hat, „Wasser auf der historischen Mühle“ zu sein.

Der Konflikttheoretiker aus Leidenschaft hat nie genug Probleme, als daß er nicht selber noch etwas Öl ins Feuer gießen könnte. So ist im Hause Kirk alleweil der Atem der Geschichte zu spüren, und der Hausherr hat die Nase zuverlässig in jedem Wind, seine Hand in jedem Spiel. Der banalste Verwaltungsakt bringt den Marsch durch die Institutionen voran. Jede Party - wir werden Zeugen zweier Kirk-Orgien- ist seine kommunikative Inszenierung, sein Privattheater und Gesellschaftsmodell. In seinen Seminaren sorgt er jedesmal tischerückend für die „ökologische Blickkontakt„-Kommunikation. Sex - das ist für ihn nicht Privatvergnügen, sondern ein historisch notwendiger Geschlechtsakt.

Allein, was ist der Endzweck der inszenierten Geschichte? Am Ende von Bradburys bissig-ironischem Roman hat Howard zwar triumphiert; aber die Hauptkampflinie seiner „relevanten Interaktionen“, das erweist sich in der postkoitalen Tristesse, verläuft im Bett, wohin er die spröd -liberale Miss Callendar unter dem Einsatz seiner ganzen psychoanalytisch-marxistischen Emanzipationsrhetorik zu lotsen verstand.

Das ist denn auch das Paradox von Bradburys intelligenter Satire: Der Weltgeist bedient sich nicht, wie Hegel glaubte, des privaten Interesses als „List der Vernunft“, um den historischen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ zu befördern. Ein Geschichtsmensch vom Kaliber Kirks nimmt umgekehrt, bewußt oder unbewußt, die Geschichte zum Vorwand und Vehikel für seine Bettgeschichten. Howard, der frech die bürgerliche Privatheit abschaffen wollte, produziert sich selbst in erotischen Intimitäten als Romanheld. Er hat die Geschichte nur deshalb auf seiner Seite, weil er sie zufällig selbst schreibt. Nicht ganz zu Unrecht nennt eine Freundin das schmächtige Kerlchen einen „historischen Notzüchter“, der sein erigiertes Mannestum, die Zukunft, „in jeden steckt, den er unter die Finger kriegt.“ So bringt jene „Kirkheit“ den Sumpf hervor, den sie mit großem Aplomb trockenzulegen wähnte.

Der englische Autor Malcolm Bradbury, der mit seinem Helden mehr als nur ein paar biographische Daten gemein haben dürfte, hat diesen amüsanten Gesellschaftsroman schon 1975 geschrieben; er ist, verwunderlich genug, zuerst 1980 in der DDR erschienen. Das Buch ist eine messerscharfe soziologische Analyse der linksalternativen Intelligentia, ein genaues Protokoll ihres Wohnungs- und Seeleninterieurs, ihrer Trachten und Posen, ihrer korrupten Selbstreflexion. Wissenschaftlich kühl und dabei souverän mit seiner auktorialen Macht spielend, kann Bradbury auf jede psychologische Einfühlung verzichten; er gibt Ursachen und Motive für die Un- und Zufälle der determinierten Geschichte, nie Schlüsse oder Urteile. Er ergreift nicht „Partei“ noch hat er Mitleid mit den Opfern von Kirks Geschichtsoptimismus; er gibt nur lapidare Fakten und lakonische Rollenzuweisungen, Sachverhalte, boshafte Dialogfetzen und sarkastische Porträts.

Bradburys Feldforschung gilt dem Jahr 1972; deshalb ist manches nicht mehr ganz taufrisch. Aids und Feminismus, das Ozonloch und der neue Hedonismus, der den Niedergang des revolutionären Fortschrittsbegriffs, der Ideologie überhaupt, flankierte, haben nicht nur die akademischen Umgangsformen umgekrempelt. Man trägt heute nicht mehr Kaftan, Militärlook und Marx; der Champagner hat den Joint abgelöst. Bradburys Roman gehört dennoch immer noch auf den Gabentisch jedes fortschrittlichen Dozenten.

Der Brite führt den Soziologieprofessor als historischen Drahtzieher vor; Ernst-Wilhelm Händlers erster Roman zeigt Philosophen, denen Geschichte ein Greuel und „die Wahrheit“ alles ist auf der akademischen Bühne. Wer trockene Abstraktionen wittert, irrt nicht. Aus dem Greno-Prospekt blickt uns ein korrekt gekleideter junger Mann mit unergründlichem Dressman-Lächeln und lässig gefalteten Händen an. Allein, der Boss-Eindruck täuscht gewaltig, auch wenn der gelernte Philosoph Händler - wie einst Broch - „in einem mittelständischen Unternehmen der verarbeitenden Industrie tätig“ sein soll. Wieviel Autobiographisches der Roman enthält, sei dahingestellt. Aber die todernste, von keiner ironischen Distanz und keinem literarischen Schnörkel getrübte Besessenheit, mit der hier den letzten Gründen nachgejagt wird, deutet auf einen eigentümlich-mönchischen, selbst von Horror- und Pornofilm-Einlagen kaum aufzuhellenden Charakter hin.

Immerhin, der Mann, mehr Selbst- als Querdenker, hat (dafür sind die deutschen Philosophen schließlich berüchtigt) ein schweres und tiefes Anliegen, das ihm leichtfertiges „Mitspielen“ im Universitäts- wie Literaturbetrieb strikt verbietet. So etwas könnte der deutschen Literatur vielleicht guttun; aber leider ist dieses Anliegen nichts weniger Abstraktes als die strukturalistische „Metatheorie der Theorien“ und zugleich eine offenbar erfahrungsgesättigte Abrechnung mit den schäbigen Ritualen der scientific community. Die Muttermilch der Alma mater stößt Händler nämlich sauer auf. Was ihm auf den Geist geht, schlägt ihm gleich auch auf den Magen: „Ich habe mich übergeben!“ - „Und sie wollen Ihr ganzes Leben lang weiterkotzen?“ - „Es wäre folgerichtig.“

Der Roman ist ein mit verteilten Rollen gelesener, philosophischer Aufsatz. Auch Musil und Broch, Canetti (an dessen „Blendung“ dieser „Kongreß“ zuweilen erinnert) oder der Thomas Bernhard haben philosophische Romane geschrieben: Aber es waren doch immer noch Romane, Sprachkunstwerke. „Der Kongreß“ ist dagegen, um im Jargon des Autors zu bleiben, eine endliche Menge wahrer Sätze, „begrifflich adäquat und logisch konsistent“, soll heißen: farblos, umständlich, schwerfällig, langweilig korrekt.

Ein kranker Professor wird von Heizungsbauern belästigt; so kann das Ministerium ungehindert die beiden Philosophischen Institute, strukturalistische Grundlagenforscher und publicitygeile „Schaumschläger“, zusammenlegen. Das Duell gipfelt in einem Kongreß, wo Konkurrenz und Korruption der angestellten Philosophen ohnehin sinnfällig zu werden pflegen. Allzeit auf eine methodische Lebensführung bedacht, geht es Händlers Philosophen aber nicht um ihr ordinäres Leben, sondern um einen von Wittgenstein, Carnap, Pierce, Kuhn und Sneed „aufgeklärten Realismus“. Die Qualität seiner Beweisführung zu würdigen, liegt außerhalb meiner Kompetenz; Händlers harscher Selbstkritik („überflüssige Umformung obsoleter Theorien“) kann man freilich kaum widersprechen. Dem Laien erscheinen die Debatten um „Theoretizitätskriterien“ und mengentheoretische „Reduktionsrelationen“ jedenfalls wie eine Menge aufgeblasener Banalitäten („Die Annahme, daß sich Sprache auf Außersprachliches bezieht, spielt die Rolle einer erfahrungswissenschaftlichen Hypothese, die ungewöhnlich gut bestätigt ist.“) und windiger Tautologien.

Ich weiß nicht sicher, ob die Welt aus Punkten oder Geraden -Abschnitten besteht, ob theorieunabhängige Erfahrungen möglich und ökonometrische Parameter wahrheitsfähig sind. Worüber ich mir allerdings ein Urteil erlaube, das ist die Sprache dieses Romans, Stil, Konstruktion, Porträtzeichnung und Dialogführung. Händlers Zugriff auf die Wirklichkeit scheitert schon an seinem geringen Wortschatz; sie wird deshalb mit methodischer Akuratesse in Formeln und Formalismen, in widerspruchsfreien Aussagesätzen „rekonstruiert“. Aparterweise verzichtet der Nominalist Händler dabei auf Namen und redet lieber umständlich -verwirrend vom „Freund des Assistenzprofessors“ oder der „Frau des neuen Professors“.

Der Klappentext schwadroniert von „der einzigartigen Strenge und Präzision dieser Prosa, in der Literatur und Philosophie sich aneinander abarbeiten“. In Wahrheit sieht man bei dieser formallogischen Schwerarbeit am Begriff vor lauter Schwielen und Schweißperlen das Werk nicht mehr. Wo Bradbury den soziologischen Jargon mit ironischer Eleganz einsetzt, um Kabale und Liebe des universitären Kosmos listig als „sozialrelevante Strukturen“ zu überführen, läßt Händler philosophische Allgemeinplätze und die Besonderheiten des Alltags, Abstraktes und konkrete Trivialitäten unverbunden nebeneinanderstehen. Bezeichnend genug, daß er seine Thesen zumeist nur mit plumpen Alibis herumlungernde Dozenten lesen zufällig herumliegende Zeitschriftenaufsätze oder entwickeln ihre Gedankengebäude gesprächsweise auf Parties - einzubringen vermag. „Wer irgendwie strebt, erreicht auch irgend etwas.“

Die wissenschaftstheoretische Reduktionsrelation - die Zurückführung von Theorien auf ihre allgemeinsten Strukturen zum Zwecke einer vergleichenden Bewertung - ist wahrscheinlich für jede Prosa tödlich; Literatur ist nicht widerspruchsfrei exakt. Für den ungelenken Erkenntnisingenieur Händler, dem logische Definitionen und die „Grammatik der vollkommenen Klarheit“ als das sicherste Palliativ gegen alle sprachlichen „Scheinprobleme“ gelten, ist jeder ästhetische Mehrwert nur Störfaktor auf dem Weg zur vollkommenen Wahrheit. „Die Philosophen“, erkennt er in einem hellen Moment immerhin, „sind der Unerbittlichkeit ihrer Vorsätze nicht gewachsen.“

Martin Halter

Malcolm Bradbury: Der Geschichtsmensch. Roman. Aus dem Englischen von Ana Maria Brock, Klett-Cotta Verlag, 272 S., 36 DM.

Ernst-Wilhelm Händler: Der Kongreß. Die Grammatik der vollkommenen Klarheit I, Eichborn Verlag, 349 Seiten, 38 DM.

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