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Blues im Leichenschauhaus

■ Zum Festival des Moskauer Off-Theaters, das vergangene Woche in Berlin zu Ende ging

Sonja Margolina

In den letzten zwanzig Jahren sind in der Sowjetunion zwei Generationen von Regisseuren groß geworden, deren ästhetische Ansichten und künstlerischer Geschmack nicht mit der offiziellen Staatsdoktrin übereinstimmten. Praktisch jeder Arbeitsmöglichkeit beraubt, wurden viele Alkoholiker, hingen ihren Beruf an den Nagel. Die unverwirklichten Ideen sammelten sich im Kessel des durch Verbote und Lügen heruntergekommenen Theaters des sozialistischen Realismus. Die Perestroika gab das Signal für die Explosion. Die Studios und Theatergruppen, die wie Pilze aus dem Boden schossen (insgesamt 3.000 im Land), konnten erstmals autonom existieren. Dabei werden nur wenige Studios vom Kulturministerium finanziert, die meisten müssen um ihre Existenz kämpfen und Betriebe oder Kooperativen als Sponsoren gewinnen. Viele existieren daher auf rein kommerzieller Basis, sie spielen, wie zum Beispiel das Studio von Mark Rosowski, bis zu vierzig Stücke im Monat. Ein Teil läßt sich auf das Niveau eines anspruchslosen Publikums herab und zeigt vulgäre Shows. Insgesamt gesehen also normalisiert sich das Theaterleben, Themen und Ästhetik werden differenzierter betrachtet, es befreit sich von den ästhetischen Vorgaben der Vergangenheit.

Das Festival des Moskauer Off-Theaters sollte nach Auffassung der Veranstalter - der Verband der russischen Theaterschaffenden und die Theatermanufaktur mit Vladimir Rodzianko - dazu dienen, dem deutschen Zuschauer eine repräsentative Auswahl der Moskauer Studiotheater vorzustellen.

Den Beginn machte das Theater der Moskauer Universität mit zwei Stücken. In dieser halbprofessionellen Truppe spielen vor allem Studenten und Universitätsmitarbeiter, selbst der Regisseur Jewgeni Slawutin ist Mathematiker von Beruf. Beide Stücke, Der schwarze Mann oder Ich, der arme Sosso Dshugaschwili von Viktor Korkija und Die Walpurgisnacht von Wendeikt Jerofejew, entstanden Anfang der achtziger Jahre, also gegen Ende der Breschnewschen Stagnationszeit. Dem Genre nach gehören beide Texte zur Literatur des Konzeptismus, die in der heutigen Lyrik und Prosa ebenso vorherrscht wie in der Malerei die Soz-Art (mit ihren bekannten Vertretern Komar und Melamid oder Ilja Kabakow). Als Bauelemente verwendet der Konzeptismus sowjetische Klischees, Parteilosungen, neuzeitliche Redewendungen, führt sie jedoch durch eine Vermischung mit der Normalsprache ad absurdum. Der Hauptvorzug beider Stücke liegt in diesem Spiel mit der Sprache, übersetzt verliert es unweigerlich an Wirkung.

Berija fürchtet, daß Stalin mit seinem paranoiden Verfolgungswahn ihn, den allgegenwärtigen und schrecklichen Henker, auch liquidieren wird. Er beschließt, das „Genie aller Zeiten“ um den Verstand zu bringen und schickt den „schwarzen Mann“, ein Gepenst, zu ihm. Die Idee des Autors war es, beide Schurken ins Netz der eigenen Angst zu treiben. Im Schwarzen Mann sind Stalin und Berija nicht so sehr groteske Figuren, die aus der tragischen Geschichte in eine komische überführt werden, als vielmehr Fiktionen, Phantome aus der Welt der russischen Literatur. Der russische Zuschauer löst während der gesamten Vorstellung ein riesiges literarisches Kreuzworträtsel: Gleich der erste Satz von Berija: „Nun noch das letzte Protokoll - und Schluß...“ verdutzt einen, da es sich um eine Paraphrase des Monologs des Chronisten Pimen aus Puschkins Boris Godunow handelt. Die finsteren Mörder unseres Jahrhunderts werden in den Kontext der russischen Literatur gestellt, als legitime Nachfahren ihrer Helden.

Viktor Korkija ist wie Berija und Stalin Georgier. Er begleicht so seine Rechnung mit seinen Landsleuten. Sein Stück ist so etwas wie Blutrache, eine Vendetta. Doch Korkija rechnet ebenso mit der russischen Literatur ab, mit ihrer Neigung zur Mythologisierung der Realität und mit ihrem moralischen Diktat, das sich in der Realität in die Vernichtung jeglicher Menschlichkeit verkehrt. Im Stück wird durchgehend das Thema des „Genius“ variiert. In Puschkins DramaMozart und Salieri streut der mittelmäßige Salieri, der den genialen Komponisten um seine Spontaneität und graziöse Leichtigkeit beneidet, Gift in den Wein. Puschkins Mozart spricht Worte, die zum moralischen Imperativ der russischen Intelligenz geworden sind: „Verbrechen und Genie - das sind zwei grundverschiedene Dinge.“ Korkija zerstört diese Formel durch die Parodie: Das „Genie aller Zeiten und Völker“ ist ein abscheulicher Missetäter und Narr. Der schwarze Mann, der bei Mozart das Requiem bestellt, ist bei Korkija identisch mit dem schmutzigen Henker Berija, der Stalin um den Verstand bringt. Die Verkehrung von Puschkins Drama ist eine Paratragödie, und Farce ist das logische Resultat des in der russischen Kultur kultivierten mythologischen Bewußtseins. Der mumifizierte Körper Stalins wird in einen Sarkophag aus Beton gelegt: eine Mischung aus Mausoleum und dem Betongrab für den Reaktor von Tschernobyl.

Die Walpurgisnacht von Wenedikt Jerofejew ist in der Inszenierung des Studententheaters in mancher Hinsicht eine Wiederholung des ersten Stücks. Wieder hat der Zuschauer einen konzeptionistischen Text vor sich, wieder hört er Zitate und Reminiszensen, allerdings diesmal nicht aus klassischen Werken, sondern aus der von den Normen abweichenden Lexik, aus Zoten und Wortspielen, Schimpfwörtern und unanständigen Knüttelversen. Das Sujet ist nicht neu: die Unterdrückung Andersdenkender durch medizinische Zwangsbehandlung. Naturalistische Klischees bestimmen die Handlung: Die Patienten werden vom Sanitäter geschlagen, sie sind grausam zueinander, der Held hat ein Liebesverhältnis mit der Ärztin, dem einzigen menschlichen Wesen in dieser Keimzelle des totalitären Staates.

Gleich in der ersten Szene erläutert der Chefarzt seine „hervorragende und fortschrittliche“ Methode zur Vervollkommnung der Gesellschaft: Er heilt Leute, die keinerlei asoziale Verbrechen begangen haben, denn diese sind die unnormalsten Mitglieder der Gesellschaft. Der Held des Stücks - der Jude Gurewitsch, Dichter, Alkoholiker und Pazifist - stiftet den Krankensaal zu einer Protestaktion an. Doch dieser Protest ist typisch russisch: Gurewitsch stiehlt den Schlüssel zum Alkoholschrank, nimmt jedoch aus Versehen Methylalkohol. Nach dem ersten Glas erkennt er seinen Irrtum und beschließt dennoch, den kollektiven Selbstmord zu Ende zu bringen. Außerordentliche Spannung gewinnt das Stück in der Szene des „zionistischen Wahns“, als die von Gurewitsch angestifteten Patienten bei ihrem „dance macabre“, dem jüdischen Tanz „Hawa Nagila“, die Kleider von sich werfen und nackt in die Tiefe des Bühnenraums rennen, wo über ihnen plötzlich ein sechszackiger Stern aufleuchtet. Die nackten „Juden“, die sich hilflos im Dunkel der Bühne zusammendrängen, lassen die Vorstellung von Gaskammern aufkommen, gemahnen an den heutigen sowjetischen Antisemitismus.

Aber wie immer bei Slawutin wird der Moment der geistigen Anspannung zur Farce. Der mit bunten Lämpchen geschmückte Davidstern kann lediglich die antisemitische Gesellschaft „Pamjat“ verärgern, nicht mehr. Und einer nach dem anderen stirbt an Methylalkohol. Wenedikt Jerofejew, der Autor des Alkoholiker-Romans Moskau-Petuschki, führt in diesem Stück ein geniales Sprachexperiment durch, er stößt dabei an die Grenzen der Möglichkeiten der russischen Lexik. Kein Wunder, daß die Hälfte des Berliner Publikums den Saal verließ, die Synchronübersetzung ermöglichte dem Zuschauer nicht, dem virtuosen Gedankenspiel zu folgen. Die russische Hälfte des Publikums hingegen lachte Tränen.

Das Theaterstudio an der Krassnaja Pressnja brachte Tschechows Möwe mit, ein Stück, das seit 90 Jahren von Hunderten von Regisseuren auf der ganzen Welt inszeniert wird. So ist ein Regisseur, der sich ihm heute zuwendet, bestrebt, Tschechow mit der heutigen Zeit zu konfrontieren, ihn neu zu lesen. Der Regisseur Juri Pogrebnitschko versucht, den Text von der Dramaturgie zu lösen: Die Helden spielen den Text nicht, sie sprechen ihn. Motor für die Inszenierung ist die Nichtübereinstimmung des Textes mit der Gestik, dem Verhalten und dem Äußeren der Schauspieler. Die Provinzschauspielerin Arkadina spricht von ihrer Judend und ihren schönen Kleidern: Der Zuschauer sieht eine schlampige, verlebte Frau, der ständig der Rock runterrutscht. Mascha, die Tochter des Verwalters, ist in hoffnungsloser Liebe zu dem talentlosen Schriftsteller Trepljew entbrannt. Dieses typisch tschechowsche Fräulein sieht hier jedoch aus wie eine Kokotte aus der Hauptstadt.

Pogrebnitschko zerstört durch einen musikalischen „Text“ die Tschechowsche „Musik“: Er macht daraus eine brutale Stadtromanze. Am Ende zeigt sich, daß Tschechows Möwe von Häftlingen gespielt wurde. Die Absicht des Regisseurs: Er will den Nachweis führen über die Unmöglichkeit von „Klassik“ in der sowjetischen Kultur. Nachdem der Regissuer mit der sozialistischen Ästhetik, die lange Jahre von Tschechow parasitierte, gebrochen hat, mußte er notwendig zum Nihilisten werden: Die Zerstörung des Tschechowschen Textes führt nicht zu einer neuen Sprache.

Herausragend das Stück Jelisaweta Bam von Daniil Charms, aufgeführt vom Theater „Tschot Netschet“ unter der Regie von Alexander Ponomarjow: Ein Höhepunkt des klassischen absurden Theaters. Charms‘ Stück ist eine Ringkomposition. Sie wird umrahmt von der doppelt gespielten Szene der Verfolgung Jelisaweta Bams durch zwei Männer in Schwarz. Am Ende der ersten Szene gelingt es Jelisaweta, beide Männer gegeneinander aufzubringen, dieser Streit wird zu Ausgangspunkt eines Stücks im Stück, das sich nach Charms‘ Lieblingskettenreaktion entwickelt: „Was wäre gewesen, wenn...“ Nach dieser Logik kann auf der Bühne alles passieren: Rotkäppchen und der böse Wolf tauchen auf, man spielt Fangen, sägt Holz, der Held steigt auf ein Gestell, das in umgekehrter Perspektive dargestellt ist, und hält eine Rede zur Verteidigung der Pastorale... Aber der unheilverkündende Schatten des Todes ist ständig in den Dialogen präsent, bedrohlich auch die abgehackten Sätze, die Wortfolgen, die mit „Totenhemd“ und „Galgenstrick“ enden. Die Gewalt ist allgegenwärtig, unweigerlich endet die Geschichte mit Jelisaweta Bams Verhaftung. Unter dem charakteristischen Fahrstuhlgeräusch wird sie weggeführt.

Mit Ausnahme der sowjetischen Fahne, die im Finale als einziger visueller Hinweis auf die Stalin-Ära das komplexe Stück banalisiert, gelingt Charms das organische Zusammenspiel von Text, avantgardistischer Ausstattung und musikalischer Begleitung: Die Schauspieler sind zugleich die Musikanten.

Der Theaterboom der Perestroika unterscheidet sich von der Studiobewegung zu Anfang unseres Jahrhunderts und der der fünziger Jahre. Die heutige Entwicklung findet vor dem Hintergrund einer tiefen gesellschaftlichen Krise statt: Das Theater erlebt seinen Boom in einer Phase der aktiven Zerstörung. Daher überwiegt dort, wie auch in der Gesellschaft, das nihilistische, frustrierte Bewußtsein. Der Konzeptismus ist seinem Wesen nach eine Form der Zerstörung tabuisierter Realitäten. Stalin ist kein blutiger Tyrann, sondern ein Alkoholiker und Psychopath. Und Korkija gibt ihm gehörig eins auf die Mütze. Der Dissident vollführt im Irrenhaus einen kollektiven Selbstmord mit Methylalkohol. Die Häftlinge und Gauner geben Tschechow eins auf die Mütze. Zum Totlachen. Aber der Lachsalve folgt die seelische Leere.

Das Moskauer Festival präsentiert eine Vendetta: Die Rache an der ewigen Lüge und den alten Götzen. Die Ästhetik der Leere und Zerstörzung, die Ruine des Sinns. Man kann nur hoffen, daß nach dieser schmerzvollen und verrückten Periode wieder ein frisches, erneuertes Theater entsteht. Aber das geschieht nicht eher, bis die Krise überwunden ist.

Aus dem Russischen von Antje Leetz.

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