: Vergangenheitsbewältigung: statistisch
■ Was die Zahlen der Ludwigsburger Zentralstelle über NS-Verbrechen aussagen
In einem umgebauten ehemaligen Gefängnis der Barockstadt Ludwigsburg residiert seit 1958 die „Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen“. Sie ist zuständig für sogenannte NSG-Verbrechen (nationalsozialistische Gewaltverbrechen), koordiniert und unterstützt die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften. Alljährlich veröffentlicht dieses Amt eine Leistungsbilanz juristischer Vergangenheitsbewältigung: 98.042 Ermittlungsverfahren in 45 Jahren, 1,4 Millionen Karteikarten, eine halbe Million Dokumente, neuerdings 30.000 Vorermittlungen... Die Zahlen täuschen: Tatsächlich verurteilt wurden seit dem 8. Mai 1945 auf dem Gebiet der Bundesrepublik etwa 6.500 Personen wegen ihrer Beteiligung an NS-Verbrechen, die allermeisten zu lächerlichen Zeit- und Bewährungsstrafen. In den letzten drei Jahren überprüfte die Ludwigsburger Behörde die Namen und Anklagevoraussetzungen von 20.000 in den Kriegsverbrecherlisten der UNO erfaßten Personen. Als Ergebnis kann bislang eine einzige „Vorbereitung einer Anklage“ vorgewiesen werden. Ob daraus je ein Strafverfahren wird, ist fraglich.
Die seit Jahren kaum mehr variierenden Wasserstandsmeldungen aus Ludwigsburg haben ihren außenpolitischen Nutzen: sie erwecken den Anschein von Aktivismus, wo Schläfrigkeit vorherrscht. Inzwischen trifft man die mit NS-Verbrechen befaßten Staatsanwälte weit eher auf Wochenendseminaren evangelischer Akademien, bei Symposien jeder Art als an den SS-Personalregistraturen des Berliner Document-Centers. Die Ludwigsburger Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Bundesrepublik kein Verfahren gab, das den Namen „Wannsee-Konferenz“ oder gar „Innenministerium“ trägt, daß sich die deutsche Justiz nie um systematische Aufklärung der deutschen Verbrechen in der Sowjetunion bemüht hat, obwohl die Staatsanwälte längst fast jedes sowjetische Archiv betreten könnten, wenn sie nur wollten; dort liegen Tausende von deutschen Dokumenten über Massenerschießungen, „Banden-“, „Juden-“, „Zigeuner-“ und „Vergeltungs-Aktionen“. Sie enthalten vielfach Datum und Uhrzeit der Verbrechen, sie enthalten die Namen der Täter. Die waren jung: 18, 20, 25 Jahre alt. Solche Aufklärung hätte die Strategie behutsamer Bewältigung natürlich gestört - und täte es immer noch.
Dennoch: Das wenige, was die deutsche Justiz an strafrechtlicher Aufklärung und Ahndung der NS-Verbrechen bewirkte, verdankt der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg viel. Es war weit mehr als die übergroße gesellschaftliche Mehrheit in Deutschland je zulassen wollte. Insoweit gibt es keinen Grund, mit spitzem Finger auf die Justiz zu zeigen. Aber andererseits: Zu stolzen Erfolgsmeldungen besteht kein Anlaß.
Götz Aly
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