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Gorbatschow will privaten Grundbesitz zulassen

■ Mit der Maßnahme soll die akute Wohnungsnot bekämpft werden / Rückgang der Industrieproduktion setzt sich fort / Marktwirtschaft als letzte Chance des Sozialismus?

Moskau (ap/afp) - Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat am Wochenende Maßnahmen zum Abbau der akuten Wohnungsnot verfügt. Wie die amtliche Moskauer Nachrichtenagentur 'Tass‘ meldete, erhalten Sowjetbürger künftig das Recht, bebaute Grundstücke zu besitzen und zu vererben. Bis zum 1. September soll die Regierung 'Tass‘ zufolge ein Wohnungsbauprogramm vorlegen, das die Einschränkungen beim Bau von Eigenheimen aufheben soll.

In dem Dekret fordert Gorbatschow bis zum Jahr 2000 den Bau von mindestens 30 Millionen neuen Wohnungen und Eigenheimen. Weiter heißt es, daß trotz verstärkter Anstrengungen in letzter Zeit in der UdSSR die Wohnungsnot nach wie vor akut sei. So lebten nahezu 4,5 Millionen Familien in Wohnungen mit einer Fläche von weniger als fünf Quadratmetern pro Person.

Der Oberste Sowjet, das Parlament der UdSSR, hatte im März ein Gesetz verabschiedet, das Privateigentum von Produktionsmitteln, Gebäuden und Fabriken zuläßt. In einem Dekret lehnte es Gorbatschow damals aber noch ab, privaten Grundbesitz zuzulassen. Einen Monat später verlautete jedoch aus dem neugeschaffenen Präsidialrat, dem Beratergremium Gorbatschows, dieses Problem werde noch einmal überdacht.

Die letzte Chance?

Nach Ansicht des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Leonid Albakin ist die Einführung der Marktwirtschaft die letzte Chance, die die Geschichte dem Sozialismus gibt. „Nur eine Marktwirtschaft kann unsere kranke Gesellschaft heilen und sogar Wohlstand bringen“, erklärte Albakin vor KP-Mitgliedern im ostsibirischen Kransnojarsk. Die geplanten Wirtschaftsreformen würden zwar einen Anstieg der Inflations- und Arbeitslosenrate nach sich ziehen, doch werde die Regierung entsprechende Maßnahmen ergreifen, um drastische Auswirkungen zu vermeiden.

Die Preise für Lebensmittel und Grundbedürfnisse sollen Albakin zufolge vom Staat kontrolliert werden, während Leute mit Niedrigsteinkommen einschließlich der Rentner mehr Geld erhalten sollen. Eine Reihe von Betrieben würden im Zuge der Reformen wahrscheinlich geschlossen werden, doch könnten sie von den Arbeitern übernommen, in Aktiengesellschaften umgewandelt oder in größere Unternehmen eingegliedert werden, sagte der für die Wirtschaftsreform zuständige Minister.

Nach Angaben Albakins hat sich der Rückgang der Industrieproduktion im April fortgesetzt. In den ersten drei Monaten des Jahres 1990 sei sie um 1,2 Prozent gesunken. Das kommunistische Parteiorgan 'Prawda‘ hatte kürzlich berichtet, daß es die größten Einbußen in der Metallindustrie (minus 2,5 Prozent), in der Ölförderung (minus vier Prozent) und im Kohleabbau (minus sechs Prozent) gegeben habe.

Regulierte Marktwirtschaft

Der geplante Übergang zu einer „regulierten Marktwirtschaft“ wird auch im Mittelpunkt der heutigen gemeinsamen Tagung des Präsidialrates und des Föderationsrates der Sowjetunion stehen. Wie Gorbatschow mitteilte, werden sich die beiden Gremien mit Maßnahmen beschäftigen, die die sowjetische Regierung im Anschluß an die beiden vorangegangenen Zusammenkünfte des Präsidialrates ausgearbeitet hat.

Der Präsidial- und Föderationsrat sind die beiden neuen Gremien, die auf der letzten Sitzung des Volksdeputiertenkongresses im März diesen Jahres geschaffen worden sind, um den Präsidenten bei wichtigen außen- und innenpolitischen Entscheidungen zu unterstützen.

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