: Die SPD rotiert um die deutsche Einheit
Ein bißchen dafür und ein bißchen dagegen: Beim Staatsvertrag versucht Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, die sozialdemokratischen Bewegungsmöglichkeiten propagandistisch zu erweitern / Die neue Bundesratsmehrheit zwingt die Partei zum Offenbarungseid ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
„Zwei Geburtsfehler, welche die SPD nur schwer heilen kann“, sah der rheinland-pfälzische SPD-Vorsitzende Scharping gestern unmittelbar vor Beginn der Sitzung der SPD -Führungsgremien beim Staatsvertrag: einen Kanzler, der die deutsche Einheit als Privatsache betreibe und die ungenügenden und ohne Beteiligung der SPD zustande gekommenden Inhalte. Dennoch wissen die Sozialdemokraten, daß sie sich um die Rolle als Geburtshelfer nicht herumdrücken können. Für den Rollenwechsel verantwortlich ist ausgerechnet der Wahlsieg in Niedersachsen mit neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat.
Zwei Tage nach den Wahlerfolgen in Niedersachsen und NRW hatte der SPD-Parteivorsitzende Vogel in seiner Frühstücksrunde vor Bonner Journalisten bereits das ganze Problemfeld ausgebreitet. Er forderte einerseits Nachbesserungen für den Staatsvertrag: in der DDR müßten ein Zusammenbruch eigentlich überlebensfähiger Betriebe mit nachfolgender millionenfacher Arbeitslosigkeit verhindert werden, die Umweltaspekte stärker berücksichtigt werden und die SED-Vermögen vom Umtausch in harte Mark ausgeschlossen werden. Zugleich zog Vogel für weitere DDR-Wünsche dort eine Grenze, wo die soziale Grundsicherung der DDR-Bürger erreicht sei. Und er machte klar, daß wegen der hochgespannten Erwartungen in der DDR auch die SPD nicht um den 1. Juli als Start für die Wirtschafts- und Sozialunion herumkomme.
Die SPD möchte nicht für die Schwierigkeiten und ein mögliches Übersiedlungschaos in der DDR verantwortlich gemacht werden, das bei einer Verhinderung oder Verzögerung des Staatsvertrags befürchtet wird. Sie möchte sich auch nicht die Blöße geben, von der Bundesregierung als Verhinderer der Einheit gebrandmarkt zu werden. Ihrer bisher erfolgreichen Strategie, in der Bundesrepublik als Partei aufzutreten, die der Bundesregierung bei den Kosten der Einheit scharf, aber machtlos auf den Geldbeutel schaut, ist mit der Mehrheit im Bundesrat der Boden entzogen. Nun muß sie selber Politik machen.
Wenige Stunden nach jener Journalistenrunde zerschlug Kanzlerkandidat Lafontaine den gordischen Knoten auf seine Weise. Statt des von Vogel bevorzugten stillen Herummogelns setzt er auf die laute Konfrontation. Er denkt vornehmlich wahltaktisch. Nur bei einer deutlichen Profilierung der SPD im deutschen Einigungsprozeß sieht der Kandidat noch Chancen für den eigenen Wahlsieg. Der schmale Grat der eigenen Handlungsfähigkeit wird deshalb zumindest propagandistisch erweitert, wenn nun laut ein Nachschlag eingeklagt wird. Die Forderung, den DDR-Betrieben für eine Übergangszeit Wettbewerbsschutz zu sichern, eröffnet dabei aus SPD-Sicht den weitesten Handlungsspielraum. Die SPD umgeht den Vorwurf, Geldverschwender zu sein, mit dem Hinweis, gerade damit werde millionenfache DDR-Arbeitslosigkeit und ein entsprechend tiefer Griff in die Tasche der Bundesbürger vermieden. Auch die Genossen der SPD-Ost, die mit dem Erreichten durchaus zufrieden sind, werden nicht verprellt.
Am Ende der Prozedur wird die SPD dennoch den Staatsvertrag nicht platzen lassen. An den schönsten Ausweg, daß der scheidende niedersächsische Ministerpräsident Albrecht (CDU) im Bundesrat noch seine Stimme nutzt, für den Staatsvertrag stimmt und damit die SPD in eine Märtyrerrolle bringt, glaubt in der Parteizentrale keiner mehr. Diese Blöße werde sich Bundeskanzler Kohl nicht geben, wird allgemein angenommen. Deshalb stimmen nun auch die SPD-Bundesländer in das von Lafontaine geforderte Schlachtengetöse ein. Die Parole, „zurück an den Verhandlungstisch“, soll die Bühne darstellen, auf der Oskar tanzen möchte. Wenn nachgebessert wird, hat die SPD ihr Ziel erreicht. Doch die Hamburger SPD/FDP-Koalition hat bereits anklingen lassen, daß sie sich bei der Abstimmung enthalten wird. Dann hätte der Staatsvertrag auch mit allen SPD-Gegenstimmen eine 21:20 -Mehrheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen