: Gorbatschow lockt und droht Litauen - Streiks in Estland zu Ende
■ Der Kremlchef bietet schnelleren Weg zur Unabhängigkeit an - wenn Litauen die sowjetischen Bedingungen annimmt / Ministerpräsident Ryschkow lehnt Kompromißangebot ab
Moskau (dpa) - Gorbatschow hat am Donnerstag im Gespräch mit litauischen Abgeordneten angeboten, die Frist für die Unabhängigkeit der Baltenrepublik auf zwei bis drei Jahre zu verkürzen, falls das litauische Parlament die Unabhängigkeitserklärung aufhebt oder wenigstens aussetzt. Das vor kurzem vom Obersten Sowjet der SU beschlossene Austrittsgesetz sieht dem gegenüber eine Mindestfrist von fünf Jahren vor.
Sollte sich jedoch Litauen mit diesem Vorschlag nicht einverstanden erklären, so bleibt nach Gorbatschow nichts übrig als die Einführung der direkten Präsidialverwaltung. Das Entstehen paralleler Machtstrukturen in Litauen mache diesen Schritt unumgänglich. Die direkte Präsidialverwaltung von Sowjetrepubliken gehört zu den Befugnissen, die dem Präsidenten durch ein neues Notstandsgesetz übertragen worden sind.
Als unzureichend hat unterdessen der sowjetische Regierungschef Nikolai Ryschkow ein Kompromißangebot des litauischen Obersten Sowjets zurückgewiesen. Die Entscheidung des litauischen Parlaments, nur die nach dem 11.März gefaßten Beschlüsse, nicht aber die Unabhängigkeitserklärung selbst auszusetzen, reiche nicht aus, um Moskau zur Aufnahme von Gesprächen zu bewegen, sagte Ryschkow dem Informationsdienst 'Interfax‘ von Radio Moskau.
Vor dem Obersten Sowjet der UdSSR, wo er am Donnerstag das Regierungsprogramm für den Übergang zur regulierten Marktwirtschaft vorlegte, bestritt Ryschkow indessen abermals, daß Moskau gegen Litauen eine Blockade verhängt habe. Die Regierung habe nur die Erdöllieferungen eingestellt und die Gaszufuhr gedrosselt, sagte der Regierungschef: „Das ist alles.“ Mit Waren wie Salz und Medikamenten werde Litauen nach wie vor wie alle anderen Republiken beliefert, versicherte er.
Der Oberste Sowjet von Litauen hatte am Mittwoch nach einer zweitägigen heftigen Debatte einem neuen Vorschlag zugestimmt, um die sowjetische Führung zur Aufnahme von Gesprächen zu bewegen. Danach soll für die Zeit der „zwischenstaatlichen Verhandlungen“ die Verwirklichung der Gesetzesakte ausgesetzt werden, die auf der Unabhängigkeitserklärung vom 11.März basieren.
Unterdessen ist der Proteststreik in Estland, mit dem russische Arbeiter den Unabhängigkeitskurs der estnischen Führung rückgängig machen wollten, beendet worden. Das sowjetische Fernsehen berichtete am Mittwoch abend, die Streikomitees der vereinigten Arbeitskollektive Estlands hätten die Aktion abgebrochen.
Der estnische Rundfunk hatte zuvor gemeldet, der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Anatoli Lukjanow, habe in einem Telegramm „im Namen des sowjetischen Präsidenten“ an die Organisatoren die Streikaktion als „nicht erwünscht“ bezeichnet.
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