: Lange Finger nach Stasi-Akten
■ Die Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit beschuldigen Diestel des Mißbrauchs von Datenmaterial und der Mißachtung eines Ministerratsbeschlusses
„Wir haben den Eindruck, daß sich Diestel auf die Seite der Täter und nicht der Opfer stellt.“ Dieses Resume zog am Mittwoch Thomas Schmidt, Sprecher der Bürgerkomitees zur Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, auf einer Pressekonferenz in Berlin. Dem Innenminister macht er den Vorwurf, unberechtigt Teile des Datenmaterials für eigene Zwecke mißbraucht zu haben, die Arbeit der Bürgerkomitees zu ignorieren und die Rehabilitierung von Opfern zu verschleppen. Diestel strebe im Auflösungsprozeß eine administrativ-doktrinäre Arbeitsweise an und behalte sich allein die Befehlsgewalt vor. „Organisch gewachsene Strukturen gesellschaftlicher Kontrolle“ habe er einfach eliminiert. Werner Fischer, von der Regierung Modrow mit der Überwachung der Auflösung der Stasi beauftragt, und Harry Ewert vom Zentralen Runden Tisch, der sich wie Fischer mit der Übernahme ehemaliger Stasimitarbeiter ins Innenministerium beschäftigt hatte, mußten mit der Amtsübernahme Diestels das Haus verlassen. Zwar sind auf ihren Einspruch hin 29 belastete Sicherheitsleute aus dem Personenschutz entlassen und Führungskader der „Antiterroreinheit“ des MfS nicht übernommen worden. Doch ist nach Meinung Ewerts nicht auszuschließen, daß sich weitere der insgesamt 3.700 ehemaligen Stasileute die im Innenministerium untergekommenen sind, schuldig gemacht haben. Diestel sei, so Ewert, einzig daran interessiert, „zentralistische Kommandostrukturen mit Hilfe des alten MfS und Parteiapparates zu erhalten bzw. zu errichten“.
Thomas Schmidt fordert in diesem Zusammenhang die konsequente Aufklärung der Arbeitsweise des ehemaligen MfS. Im Namen der Bürgerkomitees kritisiert er die im Ministerratsbeschluß vom 16. Mai 1990 geforderte Rückführung von Materialien aus den Stasi-Archiven an das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, das Innenministerium, die Generalstaatsanwaltschaft und die Militärstaatsanwaltschaft. Welcher Verwendung, so Schmidt, sollen denn diese Akten in der personell kaum veränderten Generalstaatsanwaltschaft und im „vergangenheitsbelasteten Ministerium des Herrn Diestel“ zugeführt werden. Wie sicher sind die Akten vor erneutem Mißbrauch, fragt er, wenn das Staatsarchiv, in dessen Verantwortung sich das MfS-Archiv befindet, adminstrativ dem Minister des Inneren, also der Exekutive, unterstellt ist.
David Gill vom Berliner Bürgerkomitee gab am Mittwoch bekannt, daß auf Anordnung Diestels am 15. Mai aus einer Kartei in der Normannenstraße unberechtigt Informationen „über noch lebenede Personen“ entnommen worden seien. Diestel habe damit sowohl gegen den Beschluß der Modrow -Regierung vom Februar dieses Jahres als auch den diesen ablösenden neuen Ministerratsbeschluß vom 16. Mai verstoßen. Danach dürfen nur Staatsanwaltschaft und Gerichte zwecks Aufklärung von Straftaten oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß personengebundene Akten einsehen. Gill hält weitere Verstöße für möglich und forderte eine neue Zuordnung des Archivgutes unter eine „parteien-und regierungsunabhängige Instanz“.
Über gebrochene Bürgerkomitee-Siegel vor Stasiakten berichtete auf der Pressekonferenz Matthias Büchner aus Erfurt. Die Bürgerkomitees, als „Pflänzchen Demokratie“ bisher nur „bespiehen“, warnte er, würden nun unter dem massiven „Wasserstrahl“ sämtlicher Politiker eingehen. Ganze 14 Tage gibt er ihnen noch, wenn nicht endlich von der Regierung die Freistellung und Finanzierung der in den Komitees engagierten Bürgerinnen und Bürger juristisch geregelt werde. Was die Regierung vor hat, scheint klar: Die Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi sollen sich ab 1. Juni mit protokollarisch abgesicherter Übergabe aller Materialien an das Staatsarchiv dem allgemeinen Rückzug mündiger Bürger anschließen.
Irina Grabowski
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