WIR EVANGELEN

■ Der blanke Neid auf den Katholizismus

Eine der typischen, überflüssigen Erfindungen der 70er neben elektrischen Eierkochern und Korkenziehern, Hollywoodschaukeln und Kindersportwagen war ein moderner Flachbau in kleinen Dörfern, der sich evangelisches Gemeindehaus nannte. Gebaut wurden diese architektonischen Machwerke von Baumeistern, die ihren Frust über langweilige Einfamilien- und möglichst billige Reihenhäuser mit allerlei schiefen Winkeln und untypisch geneigten Dächern abzubauen versuchten. Die neue Architektur sollte einen modernen und undogmatischen Aufbruch der ev. Kirche signalisieren, der einzig dazu diente, die verirrten Schafe zu sammeln, die sich in Bürgerinitiativen, der Friedensbewegung und ähnlich anrüchigen Movements tummelten. Mit dem grauen, nicht isolierten, da vor der Ölkrise gebauten Schalbetonbau hatte die Religion endgültig verloren.

Der Kathole, der hat's da besser. Er hat eine Architektur, die ihn in ihrer bombastischen Gewalttätigkeit fast erschlägt und ihm (und so soll es sein) die Nichtigkeit seiner menschlichen Existenz gnadenlos vor Augen führt. Während wir Evangelischen sonntagmorgens bei Tageslicht, das durch die riesigen Terrassenfenster des Gemeindehauses schien, die Oblaten völlig unfeierlich runterwürgen mußten und uns wegen der Klimaanlage regelmäßig einen Schnupfen holten, durften sie im Sommer in erfrischender Kühle und im Winter anheimelnd in Pelzmäntel gekuschelt, ihren Pfarrer betrachten, wie er sich seine Weindröhnung aus mittelalterlichen Kelchen abholte, um dann verträumt in die unendlichen Weiten des Kirchenschiffes zu starren. Während wir uns einen abbrachen, um die Noten im Gesangbuch zu entziffern und nach Möglichkeit auch noch zu treffen, was den meisten unweigerlich mißlang, durfte der katholische Mensch hochdramatischen liturgischen, ja sogar mehrstimmigen Gesängen lauschen, und während es bei uns Reformatoren meist nur nach Füßen und Putzmitteln roch, dösten die Reaktionäre im Weihrauchrausch selig entschlummert vor sich hin. Selbst das erste Händchenhalten im Konfirmationsunterricht konnte das nicht wettmachen.

Der Neid kam auf, und so trieb ich mich in meiner Jugendzeit gerne und eigentlich ja illegalerweise in heiligen Stätten der anderen Konfession herum, tauchte meine Finger in die Weihrauchschälchen der Konkurrenz, strich sanft über die brüchig gewordenen und von Holzwürmern zerfressenen Bänke, wunderte mich über die Betbänkchen und huschte schon auch mal in einen Beichtstuhl, um der Intimität zwischen Sünder und Beichtvater nachspüren zu können, die uns Evangelen, die wir nur die Massenbeichte („Vater, wir haben gesündigt, vergib uns!“ „Ist okay, Leute, ich habe heute einen guten Tag. Abgehakt!“) kennen, ungerechterweise gestrichen wurde. Keine Strafen, keine Rosenkränze, keine Madonnenanbetung, keine kleinen Kerzen für kleine Sünden und keine große Kerze für den ersten außerehelichen Geschlechtsakt. Statt dessen diese ständige Vergebung, wo soll ein junger Mensch da noch Halt finden.

Der Kathole hat's da halt einfach besser, denn neben der Befriedigung von Urbedürfnissen wie dem angenehmen Gruseln in der Magengegend und der nicht ganz asexuellen Madonnenliebe (die genug aufgeklärte, dynamische, junge Männer immer noch nicht ganz verdaut haben) war es wegen des katholischen Dogmatismus für ihn auch einfacher, den Absprung zu schaffen, sich selbst für erwachsen zu erklären, die Religion den Naivlingen zu überlassen und sich endgültig in die 80er abzusetzen. Ich selbst bin erst vor wenigen Monaten aus der evangelischen Kirche ausgetreten, und das auch nur, weil die taz die Kirchensteuer ihrer Mitarbeiter nicht mehr zahlt.

Thomas Winkler