: EMPFÄNGNISHILFE
Thomas Schiedel, Stefan Kaske und die Lolitas ■ B E R L I N E R P L A T T E N T I P S
Thomas Schiedel wuselte bislang als gefragter multiinstrumentaler Studiomusiker im Schatten Drafi Deutschers, Milvas, Udo Jürgens‘ und Jack Whites. Sagt mir, wie ihr's haben wollt, und ich mach's euch, Keyboard, Schlagzeug, Baß oder Gitarre, was ihr wollt, wie es euch gefällt. Verständlich, daß das Bedürfnis aufkommt, ein eigenes Projekt zu veröffentlichen. „All Alone“ heißt daher die erste CD von Thomas Schiedel, und bis auf eine singuläre Saxophoneinlage spielt er tatsächlich alles allein.
Dreizehnmal perfekter heiterblauer Popjazz in gefälligen fünf-, sechsminütigen Dosen, die niemand so recht unterscheiden kann, was auch nicht wichtig ist, da die Melodien ebenso eingängig wie ausgängig sind und das Kurzzeitgedächtnis nicht überleben. Gekonnte Arrangements im Einheitstempo reihen in immer gleichen Modi unaufdringliche Solopassagen aneinander, die mit einem Auge stets zu den bewährten Vorbildern schielen (Metheny, Fritz Brause), auch mal ein wenig Latin unterrühren, oder 'nen 5/8tel, aber: nicht zu sehr! Die Demoplatte eines Studiomusikers, die niemand auflegt, aber auch niemand abschaltet, zu der die Lottokugeln rollen oder die Programmtafeln sich umblättern, und die sich für die Nachrichten dezent selbst ausblendet. Daß Thomas Schiedels „All Alone„, wie es das Programm der AH Records hofft, in zehn Jahren immer noch gehört wird, nun ja, theoretisch kann ein Trompeter auch in eine Geige blasen, hinterher legt man jedenfalls die Vorbilder ein, „Legends“ von Frank Gambale zum Beispiel.
Ebenfalls ein Soloprodukt, aber auf sehr viel eigenständigeren Pfaden, ist die erste Live-CD von Stefan Kaske, der mit seinem Mythos Studio (ach der ist das) schon eine Berliner Institution darstellt. Mythos Live ist der Mitschnitt eines kürzlich gewesenen Konzerts in der Kongreßhalle. Während der HAL 9.000 im Jahre 2001 nicht mehr als ein müdes delirierendes Hänschen klein hervorgurgelte, kommt aus dem gewohnt undurchschaubaren MIDI-Geflecht des Atari-Console-Cowboys Kaske ein raffiniert gemachtes Feuerwerk an tanzbarer „Action-Elektronik“. Die Energie dafür wird nicht nur aus der Steckdose bezogen, sondern resultiert in der Hauptsache aus dem Reichtum an musikalischen Ideen und Effekten in den Gehirnwindungen des Users. Zunächst mal die Grundlage, der Rhythmus, nicht zu kompliziert, ein teils Sequencer-angereichertes Bumm-tschak -bumm-tschak, das auch mal so klingen darf, als schlüge man mit einem Hammer ausdauernd auf Stahlblechplatten unterschiedlichen Formats, dann streut man an metrischen Schlüsselpunkten zwei bis drei Schichten synkopisierte Sägezahnflocken aus mitunter ziemlich entlegenen Speichern ein, dazu noch die aus Multisounds gesampelte Sinus-Creme, und fertig ist ein fruchtbarer Boden aus vitalem Groove in gespannter Erwartung dessen, was Laie und Fachmann gleichermaßen Melodie nennt. Hier entfaltet sich das ständig bewegte Kaleidoskop kleiner Motivschnipsel, bunter Smarties, welche die gerade Linienführung kubistisch auffächern. Ein andermal ist der Überbau mehr in der Art der guten alten einschienigen Melodie, segmentiert und mit weiterführenden offenen Endungen versehen, die von einem modulativen Beleuchtungswechsel angetrieben ist. Statische Sphärenklänge bleiben ganz aus, vertritt man doch die Auffassung, die elektronische Musik sei nicht tot - sie sei nur beim Meditieren eingeschlafen. Deshalb proklamiert Stefan Kaske den Ameisenhaufen, die Überraschungseffekte, kreiert ausufernde Virusprogramme, die das veraltete EIS im Gedächtnis aufbrechen wollen. Ein exotisches Randmoment: „Mythos Live„ existiert außer in der gewohnten 12-Inch -Abmessung noch in einer mir Fragezeichen aufdrängenden 3 -Inch-Maxisingle-CD-Version, an der Besitzer älterer Pioniergeräte wenig Freude haben werden.
Jochen Bieß
Gitarrist Tutti Frutti hat die Lolitas verlassen und die haben sich dafür einen von Pseiko Lüde und den Astros geangelt, was eindeutig ein schlechter Tausch war, wegen des Gesamtstylings und so. Was soll ein Biker in einer Trash'n'Roll-meets-Chanson-Band? Aber was soll eine Kapelle machen, wenn das Heimweh nach Italien wütet? Als Abschiedsgeschenk für Tutti Frutti und Trostpflaster für die Fans gibt es eine Doppelsingle, auf der jede(r) der vier Lolitas ein eigenes Stück mit höchsteigener Stimme zum Besten geben darf und dabei von vornehmlich bandfremden, aber in Berlin einschlägig bekannten Musikanten unterstützt wird.
„Solo Solo Solo Solo„ (Vielklang, EfA) zeigt bereits im Titel den phantasievollen und rüden Humor, für den die Lolitas immer schon berüchtigt waren, und führt außerdem in die geheimen Wunschvorstellungen und Obsessionen der einzelnen Bandmitglieder ein. Denn merke: Erst unterschiedliche Charaktere ergeben ein homogenes Ganzes.
Chitarrista Coco entlarvt sich durch das Coverfoto als Titten- und Teddyliebhaber und durch sein rauh dahin geschrammeltes und krächzig gesungenes „Bambino“ als Trash-Rock'n'Roller mit Müllgütesiegel, extrem staubig und garantiert nicht biologisch abbaubar.
Sängerin und Beherrscherin der Batteria bei den Lolitas, die gar liebliche Fran?oise Cactus, rekrutierte sich die Kakteen und singt meines Wissens das erste Mal nicht in ihrer französischen Muttersprache, sondern in deutsch ein herziges Liedchen mit dem Titel „Ich tanze„, das uns die Leichtlebigkeit dieser Person und ihre bisher verborgene Schwäche für noch leichtere Tanzmusik vor Ohren führt.
Bassistin Olga sichert nicht nur durch ihre Herkunft aus dem Schwarzwald die guten deutschen Werte. Liebevoll covert sie Zarah Leanders „Reite kleiner Reiter“ und offenbart eine lyrische Ader, die Besuchern von Lolitas-Konzerten bisher entgangen sein dürfte.
Italienheimkehrer Tutti Frutti schließlich gebührt die Ehre, dieses Jahrhundertwerk abzuschließen. Sein im Paßbildautomaten entstandenes Porträt zeigt seine tiefen, dunklen Augen, sein Song „A Bomb Bop“ seine tiefe, ehrliche Liebe zum Rock'n'Roll der 50er Jahre. Nicht nur für Detlef Kuhlbrodt, sondern auch für alle anderen Fans ist diese Doppelsingle natürlich Pflicht, markiert sie doch den (hoffentlich nur vorläufigen) Endpunkt der bisher besten und einzig wahren Besetzung der Lolitas. Denn so wie sie waren, werden sie nie wieder sein können, aber trotzdem wünschen wir ihnen von Herzen alles Gute und daß sie den Weggang Tutti Fruttis verkraften mögen, und verdrücken zum Abschied noch eine Träne (aber mindestens eine).
Thomas Winkler
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