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Schwierigkeiten mit der Wahrheit und der Versöhnung in Chile

Eine Regierungskommission soll die Menschenrechtsverletzungen unter dem Pinochet-Regime untersuchen Ihre Befugnisse sind beschränkt, in der Richterschaft herrscht noch der Geist der Diktatur / „Wir haben nicht den Krieg, sondern nur eine Wahl gewonnen“  ■  Aus Santiago Gaby Weber

Noch ist es ruhig in den Räumen der „Kommission für Wahrheit und Versöhnung„; die 30 Mitarbeiter haben ihre Schreibtische noch nicht bezogen. Ab dem 1.Juni sollen unter der Leitung des früheren Allende-Botschafters, Raul Rettig, die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen untersucht werden. Die Angehörigen der Opfer wurden bereits öffentlich aufgerufen, im Laufe des Monats Juni während der Bürozeiten bei der Kommission vorzusprechen. Nach den Anfangsbuchstaben der Nachnamen sollen die Fälle erfaßt werden - eine ehrgeizige Aufgabe angesichts von mindestens 700 „Verschwundenen“ und etwa 5.000 ohne Prozeß erschossenen Regimegegnern.

Alle Menschenrechtsorganisationen haben ihre Mitarbeit angekündigt. „Kein Chilene soll jemals sagen können, er habe von nichts gewußt“, antwortet Sola Sierra, Präsidentin der „Angehörigen der Verschwundenen“, auf die Frage der taz, warum sie sich anders als die „Madres de la Plaza de Mayo“ verhalten, die der von der argentinischen Regierung eingesetzten „Kommission zur Frage der verschwundenen Personen“ CONADEP ihre Kooperation verweigert hatte.

Eine Kommission

ohne Befugnisse

Dabei gibt die von Präsident Patricio Aylwin einberufene Kommission durchaus Anlaß zur Kritik. Sie besitzt keine richterlichen Befugnisse, sie kann niemanden vorladen, sie hat keinen Zugang zu Geheimdienstarchiven und kann keine Ortstermine anberaumen. Die Pforten der Colonia Dignidad etwa werden ihr verschlossen bleiben.

Das Gesetz, das seit dem vergangenen Samstag im Kongreß debattiert wird, kommt für sie - selbst wenn es beide Kammern passiert - zu spät: In Zukunft sollen zivile Gerichte für politische Delikte zuständig sein, die Anwälte erhalten damit Akteneinsicht. Daß bereits Verurteilte vor Zivilgerichten ihre Prozesse neu aufrollen können, wird wohl am Widerstand der rechten Parteien scheitern.

„Es wäre sinnvoll gewesen, dieser Kommission per Gesetz richterliche Befugnisse zu übertragen“, so Roberto Garreton, langjähriger Anwalt des katholischen Vikariats, Mitglied der Christdemokratischen Partei (PDC) und Regierungsberater in Sachen Menschenrechte. Aber die rechten Parteien kontrollieren aufgrund der neun von der Diktatur designierten Senatoren das Oberhaus; sie hätten einen Entwurf abgelehnt oder zumindest verschleppt, wie den Gesetzesvorschlag über die Freilassung der immer noch in Haft sitzenden 300 politischen Gefangenen.

Ende April hatte das nationale Plenum der Menschenrechtsgruppen eine Gegenkommission, die „Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit“ gegründet. Sie soll vor allem für Öffentlichkeit sorgen und verhindern, daß der Abschlußbericht der Rettig-Kommission als Alibi für eine Amnestie benutzt wird.

„Man untersucht nur den Betriebsunfall,

nicht die Methode“

Die offizielle Kommission wird nicht allgemein die Folterungen untersuchen, sondern nur die Fälle, in denen Folter zum Tode geführt hat. „Man untersucht nur den Betriebsunfall, nicht die Methode“, sagt Carlos Margotta, der viele politische Gefangene verteidigte. Insgesamt waren in den über 16 Jahren Diktatur 400.000 Menschen aus politischen Gründen länger als 24 Stunden in Haft.

In die Kommission sind nicht nur integre Personen wie Jaime Castillo (der Präsident der chilenischen Kommission für Menschenrechte) und Jose Zalaquett (Ex-Präsident von amnesty international) berufen worden. Mit von der Partie sind auch Ricardo Martin (ehemaliger Richter am obersten Gerichtshof und Chef der „Menschenrechtskommission“ Pinochets) und Gonzalo Vial (Erziehungsminister der Militärs). Ihre Ernennung, glaubt Rechtsanwalt Margotta, sei wohl ein Zugeständnis an die rechten Parteien, die sich für eine Beteiligung nicht gewinnen ließen. Sergio Onofre Jarpa, der Chefideologe der „Nationalen Erneuerung“ (RN) sieht die Aufgaben zu eng gefaßt: Man müsse auch untersuchen, wer „in Chile die Gewalt gesät hat“. Die „Unabhängige Demokratische Union“ UDI spricht von „Einseitigkeit“ bereits ab 1964, mit der Landreform der christdemokratischen Frei-Regierung seien die Menschenrechte verletzt worden.

Die Kommission, so heißt es ausdrücklich im Dekret, wird nicht nur die Morde der Militärs untersuchen, sondern auch die Entführungen und Attentate mit Todesfolge durch die Gegner der Diktatur. Die Familie des 1983 von einem MIR -Kommando erschossenen Generals Urzua hat bereits ihr Erscheinen vor der Rettig-Kommission angekündigt. Nach internationaler Rechtsprechung, so Rechtsanwalt Margotta, werden unter Menschenrechtsverletzungen nur Verbrechen von Regierungsorganen verstanden, alles andere seien politische Delikte.

„Sollen die doch auch gegen links ermitteln“, meint Regierungsberater Garreton, „das handeln wir in zehn Minuten ab.“ Allerdings sieht auch er die Gefahr, daß das Amnestiegesetz, mit dem sich die Militärs Straffreiheit für ihre bis 1978 begangenen Verbrechen gewährt hatten, nicht aufgehoben wird, obwohl dies im Regierungsprogramm versprochen worden war. Man habe im Senat keine Mehrheit.

Es fehlt aber auch der politische Wille. Gegen den Regierungsentwurf über die Verminderung der Strafandrohung für illegalen Waffenbesitz stimmte jetzt nicht nur die Rechte, sondern auch zwei christdemokratische und ein sozialistischer Abgeordneter. Es habe die Stunde der Terrorismusbekämpfung geschlagen, alle Politiker seien gleichermaßen betroffen, so Andres Zaldivar, Parteichef der Christdemokraten. In der vergangenen Woche wurde ein neuer Geheimdienst der Sicherheitskräfte ins Leben gerufen, der den Carabineros untersteht.

„Früher oder später kommt der Pardon“, hat Präsident Aylwin wiederholt erklärt. Die Frage ist nur, in welcher Form. Wahrscheinlich muß er, um die Militärs zufrieden zu stellen, noch nicht einmal ein neues Amnestiegesetz erlassen, es reicht, die Opfer auf den Rechtsweg zu verweisen. Die Richter waren über 16 Jahre lang Komplizen der Diktatur, kein Folterer wurde verurteilt. Nur ein einziger Uniformierter wurde mit einer Bewährungsstrafe getadelt, weil er, gegen den Befehl seines Vorgesetzten, einen flüchtenden Plakatkleber erschossen hatte.

Richter als Komplizen

der Diktatur

Der Oberste Gerichtshof hatte die Allende-Regierung wegen verfassungswidriger Dekrete angegriffen. Am Tag des Putsches verlieh der Präsident der Suprema Corte Pinochet den Anschein von Legalität, indem er ihm feierlich die Präsidentenschärpe umhängte. In den folgenden Jahren ignorierte er Folter und staatlichen Mord und wies Habeaskorpusanträge mit dem Hinweis auf den Belagerungszustand ab, ohne die geheimen Verhörzentren und die willkürlichen Verhaftungen verfassungsrechtlich zu überprüfen. „Die Richter wußten von den Folterungen“, erinnert sich Rechtsanwalt Garreton an Flurgespräche, „aber sie sagten: Wir müssen den Militärs dankbar sein, daß sie uns vom Kommunismus befreit haben“.

Nur zwei weiße Schafe widersetzten sich dieser Logik: Richter Carlos Cerda untersuchte die Ermordung von drei KP -Politikern und Richter Rene Garcia Vellegas Foltervorwürfe. Der Oberste Gerichtshof kürzte Cerdas Gehalt und nahm ihm die Ermittlungen aus der Hand; Garcia Vellegas wurde „wegen ungebührlichen Verhaltens“ und „politischer Äußerungen“ seines Amtes enthoben.

Den Obersten Richtern hatte Pinochet für ihre Abdankung umgerechnet 100.000 D-Mark angeboten. Sechs von ihnen nahmen an, die Diktatur konnte noch in letzter Minute ihre Nachfolger benennen, die bis zu ihrem 75. Lebensjahr im Amt bleiben. „Mit ihnen ging ein Stil und eine Art, Recht zu sprechen, verloren“, trauerte im März der Präsident des Obersten Gerichtshofs seinen Kollegen nach und begrüßte deren „würdige Nachfolger“.

Mit denen muß sich nun die Aylwin-Regierung abfinden. „Die chilenische Justiz befindet sich in einer tiefen Krise“, befand der Präsident zum Unmut der Robenträger. Sie reagieren zunehmend nervöser, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Attentate. Als im April die Tochter eines erschossenen KP-Führers vor dem Gerichtsgebäude für die Freilassung der politischen Gefangenen demonstrierte, wurde sie vom Präsidenten des Berufungsgerichtes, Guillermo Navas, niedergeschlagen. Aber - eine Errungenschaft der Demokratie

-das Fernsehen war dabei und strahlte am selben Abend die Aufzeichnung aus.

Nur mit einer Mehrheit im Senat ließen sich die Richter aus ihren Ämtern vertreiben. Und selbst das wäre schwierig, glaubt Christdemokrat Garreton: „Wir haben nicht den Krieg, sondern nur knapp eine Wahl gewonnen“.

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