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Im Untergrund in die Vergangenheit

■ Auf den seit dem Mauerbau verlassenen Bahnhöfen in Ost-Berlin liegt 28 Jahre alter Staub / Unsere Reporterin wagte den Geistergang in die Berliner Geschichte / Unheimliche Begegnungen im Schummerlicht / Üble Gerüche

Mitte. Für Lebensmüde und Abenteuerlustige hält Berlin zur Zeit eine ganz besondere Attraktion bereit - ein nächtlicher Besuch auf den Ostberliner Geisterbahnhöfen. Weil die Tore durch die Förderbänder der Bauarbeiter blockiert sind und nach ein Uhr nachts keine Wache auf den Bahnsteigen ist, kann man dort in aller Ruhe herumspazieren. Unter Förderbändern hindurch gelangen wir ohne weiteres in den U -Bahnhof Französische Strasse hinunter. Der immer noch tote Bahnsteig liegt gespenstisch im Dämmerlicht altehrwürdiger Glühbirnen.

Aber man sieht an herumliegenden Kabeln und noch verpackten Leuchtstoffröhren, daß die Elektriker bereits am Werk sind. Auch Farbtöpfe und Bauschutt künden von eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen. Wenn man einen Blick in den Tunnel wirft, sind schon die Lichter des Bahnhofs Stadtmitte zu sehen. Der Weg über die Gleise dorthin ist gruseliger als jede Geisterbahn. Die siebenarmigen Ungeheuer wird man erst wieder los, wenn man den schummrigen Bahnsteig von Stadtmitte erreicht hat. Obwohl auch hier bereits Instandsetzungsarbeiten begonnen haben, ist der Bahnhof noch weit von der Gegenwart entfernt. Die alten Leuchtkästen, auf denen einstmals der U-Bahnbenutzer die Richtung nach Ruhleben, Krumme Lanke oder Pankow gewiesen bekam, sind mit 28 Jahre altem Staub bedeckt. Von den Stahlträgern der Decke hängen kleine Tropfsteine und die Treppenaufgänge des ehemaligen Umsteigebahnhofs sind immer noch vermauert. An den Tunneleingängen stehen große, nach außen gewölbte Konvexspiegel, die den noch vor wenigen Monaten hier Grenzdienst tuenden einen umfassenden Kontrollblick in die Tunnel erlaubten. Fast meinte man, die Herren würden ab heute ihren Dienst hier tun, steht doch noch alles für sie bereit.

Noch tiefer in die Vergangenheit taucht man hinab, wenn man sich die vielen Plakate an den Tunnelwänden betrachtet. Auf ihnen ist die Zeit im August 1961 stehen geblieben. Von alten Theaterspielplänen bis zu Werbeplakaten für Ausstellungen ist alles dabei. Ein Plakat lockt Besucher in eine Sportveranstaltung im Walter-Ulbricht-Stadion, ein anderes wirbt für eine Ausstellung des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem Titel „Nato-age - Ohne Chance!“. Als sie gedruckt wurden, ahnte noch keiner von der kurz bevorstehenden Trennung der Stadt. In die Betrachtung der zahlreichen Plakate vertieft, werden wir plötzlich von Stimmen aufgeschreckt. Doch zu unserer Erleichterung stammen sie von weiteren nächtlichen Besuchern, die den Bahnhof besichtigen wollen. Einer der beiden erzählt uns, daß er selbst bei der Wiederherrichtung der U-Bahnhöfe arbeitet. Das Schlimmste, sagt er, war zu Beginn der Gestank in den Tunneln. Die Wachposten fühlten sich 28 Jahre lang in den Tunneln unbeobachtet und die U-Bahnangestellten hätten Wochen gebraucht, um die Gleise von der Notdurft zu säubern. Auch vom Bahnhof Potsdamer Platz weiß er zu berichten. Dort sei eine kleine Gaststätte, Biergläser und volle Aschenbecher zeugten von den letzten Gästen. Wir gehen weiter in Richtung Kochstraß“. Ob da noch ehemalige Grenzbefestigungen zu sehen wären, fragen wir. Das wisse er nicht genau. Wir beschließen, das genauer zu erkunden und setzen unseren Tunnelmarsch fort. Aber außer an einer Stelle, wo plötzlich unmotiviert eine große Lücke zwischen den Schwellen zu sehen ist, können wir in der Finsternis nichts weiter erkennen. Dafür liegt der West-Bahnhof Kochstraße zum Greifen nahe vor uns. Man könnte sagen, daß uns der Teufel geritten hat, als wir beschlossen, auch noch diesem Bahnhof einen nächtlichen Besuch abzustatten.

Der dortige Wachhabende konnte es jedenfalls nicht fassen, daß wir tatsächlich durch den Tunnel auf seinen Bahnhof gekommen waren. Bevor er jedoch die Fassung wiedererlangt und uns entweder nach oben hinausgelassen oder aber wesentlich unpopulärere Maßnahmen ergriffen hätte, ziehen wir uns lieber wieder in Richtung Osten zurück. Auf dem Bahnhof Stadtmitte klingelt ein einsames Telefon, doch niemand ist da, um irgendwelche Meldungen über außergewöhnliche Vorkommnisse entgegenzunehmen. Erst ab September, wie wir von unserer Bahnhofsbekanntschaft erfahren haben. Dann werden auch die Spuren der Vergangeheit von ratternden U-Bahnzügen getilgt. Mag sein, daß keiner der ihren Arbeitsorten Entgegenjagenden auch nur einen Gedanken daran verlieren wird.

Markstein

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