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Der Utopie zuliebe - total verrannt

Über Amnesien eines DDR-Dichters  ■ D E B A T T E

Stephan Hermlin hat sich im Dezember 89 in einem Interview der Zeitschrift 'neue deutsche literatur‘ (38. Jahrgang/447. Heft, März 90) geäußert. Man würde dem streitbaren Antifaschisten „bestimmte Vergeßlichkeiten“ in seinem Interview hier nicht vorhalten, wenn er sich nicht wiederholt über genau diesen Defekt beklagen würde. Allerdings stellt er ihn nur bei seinen Zeitgenossen fest: „Manche Menschen ... leiden unter Gedächtnisverlust. Sie wissen nicht mehr genau, wo sie vor fünf oder zehn Jahren gestanden haben ... und geben sich das Gesicht der großen Veränderer. Sie sind es aber nicht, sie sind Mitläufer einer Veränderung.“

Wie schon in früheren Interviews gibt Stephan Hermlin sich als entschlossener Verteidiger von Gorbatschows Glasnost und Perestroika zu erkennen. Niemand hat ihn gezwungen, in diesem Zusammenhang noch einmal zu seinen uralten drei Stalinhymnen Stellung zu nehmen. Wenn er das jedoch tut, so darf man über die Selbstverliebtheit des folgenden Statements erstaunt sein: wie alle Menschen mache er „Wandlungen“ durch und befinde sich mit seinem Tyrannenlob in guter Gesellschaft: Aragon, Eluard, Picasso, Rivera, Brecht, Becher, Majakowski etc. Diese zutreffende Feststellung könnte Anlaß für einen Exkurs über die Fehlbarkeit von Intellektuellen sein - der polnische Kollege Czeslaw Milosz hatte dieses Thema mit seinem Buch Verführtes Denken schon vor vierzig Jahren vorgegeben; denn Irrtümer werden ja nicht dadurch besser, daß sie von vielen berühmten Männern gleichzeitig begangen werden. Nichts davon bei Hermlin. Statt eines Selbstzweifels, aus dem nur Dummköpfe ihm einen Strick drehen würden, begnügt er sich mit dem Satz „Ich habe mich ... dieser Dinge nicht zu schämen“ und lädt uns zur Beschäftigung mit „interessanten philosophisch-ästhetischen Fragen“ ein: es gebe „mörderische Gestalten, die - fälschlich oder nicht - einen bestimmten Wert oder eine Vision verkörpern, zu denen die Kunst deshalb Zugang sucht“. Nun ist es ja ein Unterschied, ob die Kunst zu solchen „mörderischen Gestalten“ einen kritischen oder einen verherrlichenden Zugang sucht. Für diesen Unterschied stehen andere große Namen ein. Kein Hinweis bei Hermlin! Stolz grenzt er sich von „einigen Renegaten“ ab, die „x-mal in ihrem Leben ihren Standpunkt gewechselt“ haben..., „das ist meiner Natur fremd“. Daran darf man, „zum Glück“! möchte ich rufen - zweifeln. Denn das Adjektiv „mörderisch“ im Zusammenhang mit Stalin ist meines Wissens neu. In einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus (September 84) hatte Stephan Hermlin zu seinen Stalingedichten noch gesagt: „Wie hätte ich es wagen können, sie zu widerrufen, wenn Millionen von Menschen mit dem Ruf: Brot, Stalin, Vaterland! auf den Lippen starben?“ Damals war Gorbatschow noch nicht im Amt und hatte die Kritik am Stalinismus noch nicht freigegeben. Aber schon damals und Jahrzehnte früher hatten Kollegen von Stephan Hermlin öffentlich die Gegenfrage formuliert: „und wieviele Menschen starben mit dem Fluch: Stalin-Mörder auf den Lippen?“

Warum kann ein Schriftsteller von der Statur Stephan Hermlins diesen Kollegen nicht endlich Reverenz erweisen? Warum geht ihm der einfache Satz nicht über die Lippen: „Wir müssen unsere eigenen 'Schwierigkeiten mit der Wahrheit‘ untersuchen und werden finden, daß auch wir Anlaß haben zur Reue und Scham.“ Es war Christa Wolf, die ihn - in Anspielung auf das Buch von Walter Janka - in der Erlöserkirche formulierte (siehe 'neue deutsche literatur‘, 446. Heft, Februar 1990). Falls dies ein „Frauensatz“ ist, dann sind es die Frauensätze, die uns weiterführen.

Stephan Hermlin hat in der DDR immer wieder bedrängten und zur Ausreise genötigten Kollegen geholfen, auch wenn er, was oft der Fall war, literarisch nichts von ihnen hielt. Durch sein unerschrockenes Eintreten für die DDR Erich Honeckers, dem er seit seiner Jugendzeit verbunden war, hat er sich im Westen viele Feinde gemacht und den Schaden für sich selbst in Kauf genommen. Die aus dem antifaschistischen Kampf geborene Sozialismusutopie seiner Jugend hat er gegen alle Einsprachen der Realität verteidigt. Seine Hoffnung (und Behauptung), der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden könne auf Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit verzichten, hat er jedoch immer nur nachträglich, durch persönliche Interventionen, zu bestätigen vermocht. Dank seiner Telefonkontakte wurden Zensurmaßnahmen rückgängig gemacht und Ausreisegenehmigungen erteilt. Daß ein Schriftsteller dabei in die Verlegenheit gerät, indirekt die Funktionen einer Paßbehörde wahrnehmen zu müssen, hat ihn sicherlich gestört, aber in seiner grundsätzlichen Loyalität nicht beirrt. Das biographische Drama einer solchen Selbstentfremdung und Enttäuschung wäre eine Auskunft wert. Statt dessen verweist Stephan Hermlin in dem oben erwähnten Interview auf seine Verdienste als Anwalt der Gedankenfreiheit von der ersten Stunde an. Bereits vor dreißig Jahren habe er zusammen mit Anna Seghers (deren Rolle im Prozeß gegen Walter Janka er unerwähnt läßt) gegen den Ausschluß von Heiner Müller gestimmt. Im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976) und des Ausschlusses von zunächst „zwölf“ und später weiteren „acht oder neun“ Schriftstellern (1979) beklagt er eine „seltsame Amnesie“: man vergesse „die simple Tatsache, daß es zwei gab, die damals, 1979, den Verband in längeren Reden aufforderten, gegen die Ausschlüsse zu stimmen. Einer der beiden war ich.“

Mit dieser Selbstgratulation endet das Interview. Da von Amnesie die Rede ist: unerwähnt bleibt, daß Stephan Hermlin über Kollegen, die nach der „unerhörten Kampagne gegen Wolf Biermann ... und Andere“ (s. Stephan Hermlin, 'neue deutsche Literatur‘, März 1990) die DDR verlassen hatten und sich in Berlin unter dem Motto „Flüchtlingsgespräche“ trafen, das Folgende gesagt hatte: „Diese Herrschaften sind Ausreiser, Ausreiser mit Sack und Pack, bei hellichtem Tage, mit schönen Papieren, auf ihre eigene Veranlassung und oft mit freundlicher Verabschiedung.“ Das war reiner Hohn. Einige der „ausgereisten“ Kollegen hatten im Gefängnis gesessen, andere waren durch die Mitteilung, sie würden niemals in der DDR veröffentlichen können, zur Ausreise erpreßt worden, kaum einer war freiwillig gegangen. Warum kann Stephan Hermlin nicht zugeben, daß er sich damals - seiner Utopie zuliebe - total verrannt hatte? Ein solches Eingeständnis würde mehr zur Erhellung des „geistig-moralischen Notstands unserer Gesellschaft“ (so Christa Wolf) beitragen als tausend leicht widerlegbare Behauptungen, daß er eigentlich immer richtig lag.

Peter Schneider

Der Autor lebt als freier Schriftsteller in West-Berlin.

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