piwik no script img

Irgendwie schon Woyzeck

■ Jürgen Flimm inszeniert Büchner am Hamburger Thalia-Theater

Als der Leipziger Arbeitslose Johann Christian Woyzeck am 24. August 1824 auf dem Marktplatz von Leipzig hingerichtet wurde, war damit zwar ein Kriminalfall erledigt, aber es begann eine heftige wissenschaftliche Debatte über die Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten, das heißt um die Ursachen von Affekten und den Zusammenhang seelischer Vorgänge. Der ehemalige Barbier, Krankenpfleger, Soldat war zum Casus der frühen Psychologie geworden. War er ein zweitweilig geistig Gestörter, oder einfach das Opfer einer wilden Zeit von Revolutionen und Kriegen, zerborstenen Reichen und aus dem Nichts geschaffenen Dynastien?

Das Bühnenbild betont die Modernität der Figur und des Themas: Es verwandelt die Bühne in den Hinterhof eines modernen Wohnblocks, in den trostlosen Appellplatz einer dieser Betonburgen in Hamburg oder Leipzig. Reste von Vegetation, Bauschutt, ein Wasseranschluß, Müll und dazwischen Menschen: Woyzeck, ein kahlköpfiger, magerer Junge, kaum erwachsen, mit schwarzer Kassenbrille, im Drillichzeug irgendeiner Armee; die Marie, ein aufreizendes junges Ding mit leerem Gesciht, ein rosa Miniröckchen über nackten Beinen; das stumme Kind herumgeschoben, abgestellt wie ein zerbrochener, überflüssiger Gegenstand, behütet von dem stummen Idioten Karl, einem schrägen Stadtindianer, Wolfgang Neuss redivivus. Menschen im Dickicht der Städte, nicht die Raubtiere mit Affengebiß, wie sie Brecht in Baal, Krager und Garga vorführte, sondern Abfall, der Menschen -Müll.

Dazu scheint zu passen, daß der Hauptmann und der Arzt nicht als Repräsentanten einer anderen Ordnung, einer höheren Klasse auftreten. Ihre Welt der Moral und der Tugend, des freien Willens und der wissenschaftlichen Wahrheit, hat sich längst erledigt, ist zur Sprechblase und zum Tick geworden. Sie sind Entwurzelte wie alle, Nichtseßhafte in einer Zeit, die wie eine Kloake Uniformen und Titel, soziale Rollen und die Insignien der Macht wegschwemmt, Treibgut im Frühjahr 1990. Aber die Inszenierung vergibt, kaum daß sie aufgetaucht ist, auch schon die Chance dieser Idee, verrät sie an die Karikatur und den Gag. Der Arzt (Christoph Bantzer) könnte den Exzeß eines Spleens, könnte einen Hauch von Mengele zeigen - was man sieht, ist ein zahlenversessener Quacksalber, ein ständig messender Narr. Und der Hauptmann (Fritz Lichtenhahn), spinnenbeinig in seinen Wickelgamaschen und Breecheshosen, ist ein debiler Trottel mit Platzpatronen in der Mauserpistole. Bei Büchner stehen die beiden Figuren für die sozialen Bleigewichte, die auf der Kreatur Woyzeck lasten. In Flimms Inszenierung werden sie zu - ob ihrer Artistik bejubelten - harmlos-komischen Nebenfiguren.

Bleibt das Dreieck der Beziehung: Der schneidige Tambourmajor, der einem verwirrten Füsilier die Frau ausspannt. Kann in der Geschichte dieser drei Menschen Büchners bohrende Frage nach der Determiiertheit der Kreatur, nach der Gewalt in den menschlichen Verhältnissen aufgerollt werden? „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht,“ sagt Woyzeck.

Man bekam in Hamburg weder den existentiellen Abgrund noch den animalischen Unterleib des Homo sapiens zu sehen. Dazu hätte es lebender Körper, des Bestiariums der Gefühle, der Stichflammen von Energie bedurft. Aber der Tambourmajor (Sven-Eric Bechtolf) durfte nur einen prallen Arsch in einer festen Uniformhose geben, das Flittchen Marie (Martina Schiesser) wurde auf die Quersumme von Mini, Disco und Kinderstrich reduziert, was zwischen den beiden geschah, geschah in Andeutungen - die Leidenschaft von Schaufensterpuppen, die Gesten der Peep-Show. In solch ausgedünnter Luft fiel auch dem Woyzeck das Atmen und Röcheln schwer. Sein bohrend-stammelndes Philosophieren verriet nichts von seiner Einsamkeit, der Mord blieb - ohne die dumpfe Verletzung eines Tiers - eigenartig zufällig. Borcherts Beckmann, ohne daß Krieg gewesen wäre, ein pubertierender Intellektueller, der Tiefsinn absondert und sich in eine Eifersucht verrennt. Tobias Langhoff, dessen schauspielerisches Talent man kennt, ist dafür nicht verantwortlich zu machen. Es lag am Druckabfall, den die Inszenierung betrieb - Verwandlung der Macht in die Karikatur und Auflösung der Gewalt müssen keine Namen tragen, aber sie müssen real sein, auch auf der Bühne.

Ein anderer Reinfall erwies sich als mindestens ebenso fatal. Statt die Kurzszenen mit Black-outs voneinander abzusetzen, ließ Flimm 21/2 Stunden eine einzige durchgehende Großszene spielen. Gerade in den Intervallen des Fragments, in den Aussetzern zwischen den Szenen, vergrößert sich die Distanz der Figuren untereinander, laden sich die Affekte auf, steigert sich das Tempo in Richtung Abgrund. Die Technik der Überblendung verhindert diese Wirkung: Die Büchnerschen Szene-Fetzen verwandelten sich in einen großen Lappen Löschpapier, der die genauen Konturen verwischte und die scharfen Ränder auflöste. Büchner moderato cantabile.

Nur an zwei Stellen zeigte die Inszenierung, wozu sie in der Lage gewesen wäre. In der Szene im Wirtshaus werden alle in einen tollen Totentanz hineingerissen, die Biedermeier -Handwerksburschen machen mit dem Jäger aus Kurpfalz den Auftakt, und die Kinder vom Bahnhof Zoo übernehmen mit Hey, Jude - dreimal tobt das über die Bühne, daß einem der Atem stockt. Das andere Mal der gleiche Effekt, als die Großmutter das Märchen vom verlassenen Kind erzählt, das weinend am Himmel von Planet zu Planet rennt und ungetröstet auf der umgestürzten Erde wieder ankommt. Da war sie zu spüren, die große Kälte und das Dunkel im Dickicht der Städte.

Hannes Heer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen