: Über sowjetischen „Revisionismus“
Die chinesische KP will sich von Gorbatschow abgrenzen - aber geheim ■ D O K U M E N T A T I O N
Die von Peter Schier übersetzten und hier auszugsweise wiedergegebenen Dokumente der chinesischen Führung - eine Rede Dengs und ein Zirkular des Politbüros - nehmen nach langer Zeit des Schweigens erstmals Stellung zur Entwicklung in der Sowjetunion und Osteuropa. Das Zirkular zur SU wurde 80.000 höheren Funktionären zur Kenntnis gegeben. Deng selbst lehnt ausdrücklich eine internationale Polemik gegenüber dem sowjetischen „Revisionismus“ ab und vermeidet jeden Anschein, China zum „Leuchtturm“ des Sozialismus stilisieren zu wollen. Für die Krise des realen Sozialismus werden die ökonomischen und politischen Reformen verantwortlich gemacht. Imperialistische Außensteuerung ist das wesentliche Erklärungsmuster - dies im schroffen Gegensatz zur maoistischen Dialektik. Die Dokumente klammern sich an einen Stabilitätsbegriff, der chimärisch ist und dem Denken in Kategorien des Widerspruchs völlig zuwiderläuft. Der KPdSU wird vorgeworfen, die Position des internationalen Klassenkampfs verlassen zu haben, die führende Rolle der Partei zu negieren und auf den Standpunkt des bürgerlichen Parlamentarismus abgesunken zu sein. Da keinerlei Analyse der wirklichen Krisenentwicklung in den sozialistischen Ländern versucht wird, bleibt nur übrig, den Verrat zu denunzieren und an den revolutionären Glauben zu appellieren. Die Dokumente enthüllen eine extreme Geschichtsmetaphysik, die sich in der Überzeugung vom endlichen Sieg des Sozialismus auch dadurch nicht erschüttern läßt, daß fast alle sozialistischen Länder und kommunistischen Parteien „die Farbe gewechselt haben“. Allerdings folgt aus dieser Überzeugung nichts außer dem Herrschaftsanspruch der Partei.C.S.
Deng: Brunnen und Flußwasser
„Wir müssen zuallererst die Stabilisierung (der Lage im Land) in Angriff nehmen, an zweiter Stelle müssen wir uns ebenfalls der Stabilisierung widmen, und auch unser drittes Hauptaugenmerk muß der Stabilisierung gelten. Wenn wir unsere eigenen Angelegenheiten gut geregelt haben und Stabilität eingekehrt ist, dann ist das unser Gegenschlag gegen das Konzept Gorbatschows.
Wir sind hocherfreut darüber, daß auf die Armee Verlaß ist, auf die überwältigende Mehrheit der Parteimitglieder und auf die breiten Massen der Arbeiter und Bauern Verlaß ist. Da wir über diese drei Stützpfeiler verfügen, werden jegliche feindliche Kräfte in China nichts ausrichten können.
Wir machen unseren Sozialismus, und die anderen machen ihre Kapitalismus. Flußwasser vermischt sich nicht mit Brunnenwasser (...). Auch in Bezug auf die Sowjetunion und Osteuropa schlage ich vor, daß wir Flußwasser nicht mit Brunnenwasser vermischen. Die haben ihre Farbe gewechselt und sind revisionistisch geworden. Es reicht, wenn wir uns intern darüber im klaren sind, wie die Dinge liegen. Die Beziehungen zu diesen Staaten sollten jedoch noch weiter entwickelt werden.“
Zirkular zur KPdSU
Vom 5. bis 7. Febraur berief die KPdSU eine erweiterte Tagung ihres Zentralkomitees ein, auf der Gorbatschow einen Bericht vorlegte (...), der den grundlegenden Prinzipien des Marxismus vollkommen zuwiderlief. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Manifestation des Sozialdemokratismus der II. Internationale unter den neuen historischen Bedingungen. Der Kern (dieses Konzepts) besteht darin, den Klassenkampf im internationalen Rahmen zu negieren, den Charakter der Kommunistischen Partei zu verändern, und die parlamentarisch -demokratische Politik des Westens zu betreiben.
Die in den letzten Jahren in der Sowjetunion gemäß dem „neuen Denken“ von Gorbatschow durchgeführten sogenannten Reformen haben in der sowjetischen Gesellschaft bereits zu einem riesigen Chaos geführt. Die KPdSU befindet sich gegenwärtig in einem Prozeß der Aufspaltung. Die oppositionellen Kräfte treten der KPdSU öffentlich als ebenbürtig entgegen. Die sogenannte „Demokratische Programmfraktion der KPdSU“, die „Organisation für demokratische Wahlen“ und die Leute um Jelzin sind dabei, neue Parteien zu gründen. Die früher bereits existierenden Widersprüche zwischen den verschiedenen Nationalitäten haben sich weiter verschärft. In Aserbaidschan, Lettland, Estland und anderen Unionsrepubliken ist es nacheinander zu Unruhen und sogar zu gewalttätigen Zusammenstößen gekommen. Die wirtschaftliche Situation verschlechtert sich immer mehr, die Produktion sinkt, es herrscht Warenmangel, und überall hört man das Klagen und Murren des Volkes. Gorbatschows „neues Denken“, seine Unterstützung (von Reformbestrebungen) und seine Einmischung (in die inneren Angelegenheiten anderer sozialistischer Staaten) sind auch ein wesentlicher Grund für die umwälzenden Veränderungen in den Staaten Osteuropas, und sie stellen sowohl die äußeren als auch die inneren Ursachen (für die Entwicklung in Osteuropa) dar. Die Tatsachen beweisen, daß Gorbatschows Reformen überhaupt nichts zu tun haben mit der Vervollkommung des sozialistischen Systems, sondern sie stellen eine Evolution in Richtung Kapitalismus dar.
Die Sowjetunion war der erste sozialistische Staat, der von Lenin ins Leben gerufen wurde. Sein Wandel wird einen größeren Einfluß auf unser Land haben als die Veränderungen in Osteuropa. Der westliche Block mit den USA an der Spitze und die feindlichen Kräfte auf der internationalen Arena verstärken weiterhin ihren Druck auf unser Land, und auch dies wird die neuen Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, noch erhöhen. Angesichts dieser Gegenströmung wird sich vielleicht das ideologische Chaos in den Köpfen einiger Leute noch vergrößern. Es wird Befürchtungen darüber geben, wie lange das Banner des Sozialismus noch hochgehalten werden kann, und ob wir die sozialistische Stellung noch behaupten können. Jene, die hartnäckig an dem Standpunkt der bürgerlichen Liberalisierung festhalten, und die dem Sozialismus feindlich gesinnten, reaktionären Kräfte werden ebenfalls Unruhe stiften, Aufruhr provozieren, die politisch Stabilität untergraben und vergeblich versuchen, unser sozialistisches System zu erschüttern. Die Lage ist kompliziert, und der Kampf spitzt sich zu. (Angesichts dieser Situation) müssen wir einen klaren Standpunkt einnehmen und deutlich Stellung beziehen; müssen wir ideologisch gut vorbereitet sein und die Entwicklung der Lage mit größter Aufmerksamkeit verfolgen.
1) Wir müssen eine unmißverständliche Einschätzung des Charakters der Entwicklung der Lage in der Sowjetunion und in Osteuropa haben. Der Sozialismus stellt einen langen historischen Prozeß dar, und Rückschläge, ja sogar ein Umsturz, sind unvermeidlich. Doch wie windungsreich der Weg auch sein wird, die allgemeine Entwicklungstendenz der Geschichte, daß letztlich der Sozialismus den Kapitalismus ablösen wird, ist unabänderlich. Nur weil es in der Sowjetunion und in Osteuropa zu einer zeitweiligen Evolution gekommen ist, darf man gegenüber dem Sozialismus nicht ins Wanken geraten, ihn gar in Zweifel ziehen.
2) Wir müssen erkennen, daß sich der Charakter unseres Landes von dem der Sowjetunion und Osteuropas unterscheidet. Unsere Partei ist eine altbewährte und reife politische Partei des Proletariats, die in den langen Jahren des revolutionären Kampfes mit den Volksmassen engste Verbindungen geknüpft hat und deshalb über eine feste Massenbasis verfügt. In den 70 Jahren seit ihrer Gründung ist unsere Partei nie dem Einfluß des Opportunismus der II. Internationale erlegen gewesen. Der Marxismus-Leninismus und die Mao-Zedong-Ideen stellten immer die Leitideologie unserer Partei dar. Die Beziehungen unserer Partei zu den demokratischen (Block-)Parteien sind Beziehungen der Mehrparteien-Zusammenarbeit unter der Führung der Kommunistichen Partei. Es handelt sich dabei um ein politisches System, das sich in den langen Jahren des Kampfes herausgebildet hat und das chinesischen Charakter trägt.
Das Mehrparteiensystem des Westens hat in China keinen Platz. Das sozialistische System stellt die historische Wahl dar, die das chinesische Volk in den langen Jahren des revolutionären Kampfes getroffen hat. Die über hundertjährige Geschichte seit den Opiumkriegen beweist voll und ganz, daß „nur der Sozialismus China retten kann“ und daß „nur der Sozialismus China entwickeln kann“ (Zitate Mao Zedongs).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen