: Vorüber sind die Tage König Salomons
Auf dem Hamburger Pflegekinder-Kongreß prallten zwei Glaubensrichtungen aufeinander / Es ging um die alte Streitfrage: Ersatz- oder Ergänzungsfamilie Traditionelle Familienpflege soll durch vielfältige Formen ergänzt werden / Gegensätzliche Erfahrungen von Eltern und SozialarbeiterInnen ■ Aus Hamburg Gabi Haas
Um den Streit zweier Mütter um ein Kind zu schlichten, befahl der weise König Salomon, das Kind zu zerteilen. Die falsche Mutter verriet sich durch ihre Einwilligung, so heißt es in der Erzählung des Alten Testaments. Es ging um uralte Menschheitsthemen beim „Hamburger Pflegekinder Kongress“ in dieser Woche, doch mit so einfachen Tricks wie dem salomonischen Test kommt man im modernen Pflegewesen nicht mehr weit. Die Streitfrage, um die in diesen Tagen zwischen SozialarbeiterInnen und TherapeutInnen, zwischen Herkunfts- und Pflegeeltern so erbittert gerungen wurde, wie all die Jahre seit dem ersten großen Pflegekinder-Kongress 1975 in Berlin, lautet: „Ersatz- oder Ergänzungsfamilie?“
Die Vielschichtigkeit dieses Problems wurde in Hamburg durch die erregte Schilderung einer Pflegemutter eindrucksvoll veranschaulicht: Es ging um den Sohn einer Türkin, die mit 17 Jahren schwanger geworden war, keinen Partner hatte und wirtschaftlich in völlig ungesicherten Verhältnissen lebte. Um ihren mühsam ergatterten Job nicht zu verlieren, gab sie ihr Kind mit viereinhalb Monaten zu Pflegeeltern, beides aufgeklärte PädagogInnen, ohne Vorurteile gegenüber Minderheiten. Sie nahmen nicht nur das Kind auf, sondern versuchten auch noch, der Mutter zu helfen. „Eine Wahnsinnsaufgabe, die einem die Nerven zerfetzt“, so sieht es die Pflegemutter heute, nach fünf Jahren, in denen sie nicht nur Tag und Nacht für den Jungen dasein, sondern auch Ersatztherapeutin für die verhinderte Mutter spielen mußte. Die wiederum will ihr Kind nicht endgültig aufgeben und droht bei Abbruch des Kontaktes, den Sohn in eine andere Einrichtung zu geben. Der Junge, der in der Pflegefamilie wie ein Sohn aufgewachsen ist, darf nur zu seiner leiblichen Mutter „Mama“ sagen, bei der er alle vierzehn Tage ein Wochenende verbringt. Die mit viel Elan und Sympathie für die junge Frau angetretenen Pflegeltern fühlen sich inzwischen psychisch am Ende ihrer Kraft.
Was also dient dem Wohl des Pflegekindes wirklich: Kann es die Beziehung zu seiner neuen Familie wirklich nur ungestört aufbauen und die oft traumatischen Erfahrungen seiner frühen Kindheit verarbeiten, wenn es, vor den Ansprüchen der leiblichen Eltern quasi geschützt, mit der sicheren Perspektive einer Dauerbindung in der Pflegefamilie aufwachsen kann? Oder ist es gerade umgekehrt: Braucht das Kind den Kontakt zu seiner natürlichen Familie, muß ihm nicht sogar die Rückkehr offengehalten werden, damit es die als Niederlage empfundene Trennung von seiner Herkunftsfamilie nicht als seelischen Ballast zeitlebens mit sich herumschleppen muß? Und würden es nicht in vielen Fällen wirtschaftliche Hilfen möglich machen, daß das „fremdplazierte“ Kind zu seinen leiblichen Eltern (in fünf von sechs Fällen ist es die alleinstehende Mutter) wieder zurückkehren kann?
Hinter diesem stellenweise wie ein Glaubenskrieg geführtem Kampf zweier Linien verbergen sich die widersprüchlichen Interessen von Herkunftseltern und Pflegefamilien. So verweigern viele Eltern die Verlegung ihrer Kinder aus einem Heim in eine neue Familie, weil sie fürchten, mit diesem Schritt ihr Kind endgültig aufzugeben. Und viele Pflegeeltern erleben die „Doppel-Kindschaft“ und „gespaltene Elternschaft“ als qualvolle Verunsicherung für ihre Schützlinge und sich selbst. Kein Wunder, daß Haro Schreiner vom Bundesverband der Pflege- und Adoptiveltern das Kongressmotto „Mut zur Vielfalt“ scharf kritisierte. Während es den VeranstalterInnen darum ging, die traditionelle Familienpflege durch andere Formen wie Tagespflege, Kurzzeitpflege oder Sonderpflege für besonders schwierige Kinder zu ergänzen, sah Schreiner hier eine „anthropologische Grundtatsache“ in Frage gestellt: „Jedes Kind braucht eine konstante Bezugsperson.“
Hinter diesem Konflikt aber stehen auch die gegensätzlichen Erfahrungen von SozialarbeiterInnen, die die aussichtslose Situation der Mütter oft hautnah miterleben, und PsychotherapeutInnen, in deren Praxis wiederum jene am schlimmsten mißhandelten und geschädigten Kinder landen, für die jeder Kontakt mit ihren Peinigern Gift wäre.
So beschrieb der prominente Psychotherapeut Arnim Westermann (Münster) eindrucksvoll, wie sich die „Erziehungsunfähigkeit“ in vielen Familien wie eine Kettenreaktion von Generation zu Generation fortsetze und sich in Form von Aktenbergen in den Ämtern niederschlage, weil niemand den Mut aufbringe, dieses verhängnisvolle Familienband zu durchschneiden.
Von einer ganz anderen Perspektive beleuchtete dagegen die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Anneke Napp-Peters das Problem: Nach ihren Untersuchungen kommen die rund 50.000 Pflegekinder in der Bundesrepublik zum überwiegenden Teil aus „nicht vollständigen“ Familien, die durch Scheidung oder Trennung in die Katastrophe stürzten. Wegen fehlender Unterhaltszahlungen und Arbeitslosigkeit, verschärft durch das Wohn- und Kindergartenproblem, leben die alleingelassenen Mütter vielfach an der Armutsgrenze und können ihre Kinder nicht mehr versorgen. Die Folgen sind der Verlust sozialen Ansehens und Depressionen, die auch die Kinder und ihre schulischen Leistungen niederdrücken. Ein engmaschiges Netz flexibler Hilfsangebote, so die bekannte Buchautorin, könnte viele Familien vor dem Auseinanderbrechen bewahren. Napp-Peters zitierte außerdem Studien, nach denen der Entwicklungsstand von solchen Pflegekindern deutlich höher liegt, die regelmäßig Besuch von ihren leiblichen Eltern erhalten.
Dazu die Erfahrung einer Pflegemutter von drei Kindern: „Je offener Pflegefamilien den Herkunftsfamilien gegenüberstehen, desto leichter können die leiblichen Eltern ihre Kinder loslassen.“ Bei einem ihrer Kinder hat sie allerdings selbst erleben müssen, daß es im Pflegewesen keine absoluten Glaubenssätze gibt: Ihr fünfjähriger Pflegesohn fühlte sich von seinen neuen Eltern „verraten und verkauft“, weil sie den Kontakt zu seiner schizophrenen Mutter aufrechterhielten. Das Pflegeverhältnis mußte abgebrochen werden.
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