Grüne wollen „grüne Brillen“ aufsetzen

■ Mitgliederversammlung diskutierte konstruktiv / Ökologie soll wieder an erster Stelle stehen / Kampagnen gegen Klimakatastrophe und Automobil

„Wir sagen zu allem etwas und sprechen fast niemand mehr an“ - „Die innerparteiliche Komunikation ist weitgehend gelähmt“ - „Wir verlieren ständig Menschen“ - „Es ist sehr fraglich, ob wir die Hürde einer Bundestagswahl, geschweige denn einer ge

samtdeutschen Wahl am 2. Dezember überspringen können.“ Mit dieser ungeschminkten Zustandsbeschreibung stimmte der grüne Bundesvorstandssprecher Ralf Fücks am Mittwoch abend 70 grüne Mitglieder ein auf das Hauptthema der Mitgliederver

sammlung: „Grüne Politik im Wahlkampfjahr“. Ralf Fücks machte als Ursache der grünen Misere aus: „Die Grünen haben sich von ihrer historischen Rolle, von der ökologischen Herausforderung entfernt. Ökologie ist zu einem Politikfeld unter vielen geworden.“ Er schlußfolgerte für die grüne Zukunft: „Die ökologische Neubestimmung aller Politikfelder.“ Dies sei keine willkürliche Zuspitzung, denn, so Fücks: „Ökologie ist die zentrale Herausforderung.“ Komme es nicht bald zu Veränderungen, stehe die „ökologische Notstandsverwaltung“ bevor. Der Bundesvorstand bereite deswegen eine Kampagne vor gegen die drohende Klimakatastrophe und gegen den Automobilismus. Die Kampagne bezeichnete Fücks als „Testfall, wie ernst sich die Grünen selbst noch nehmen als ökologische Partei“.

Mit seiner Analyse löste Fücks eine über weite Strecken konstruktive Debatte aus. Viele RednerInnen gaben ihm recht in der Forderung, die Ökologie müsse wieder zum Primat werden. Cecilie Eckler-von Gleich korrigierte Ralf Fücks jedoch: Die Behauptung stimme nicht, daß das grüne Thema in den Anfangsjahren zentral gewesen sei, schon damals seien viele wertkonservative ÖkologInnen ausgetreten, während andere vorrangig das Interesse gehabt hätten, ein linksalternative Partei aufzubauen.

Birgit Geissler forderte: „Das grüne Projekt muß sich verabschieden von dem linken Projekt.“ Wenn die Grünen die Auto-und die Rüstungsindustrie abzuschaffen wollten, könnten sie nicht gleichzeitig fordern: „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich“. Die Bundestagsabgeordnete Marieluise

Beck-Oberdorf kritisierte ebenfalls die grüne Sozialpolitik. Diese sei zu staatsfixiert. Die Idee einer Sozialpolitk in Netzen und Initiativen sei den Grünen „weggerutscht“ genauso wie die Kritik am sich wieder ausbreitenden Wachstumsfetischismus. Den Feministinnen in der Partei warf sie vor, ein „instrumentelles Verhältnis“ zur Partei zu haben: „Wir müssen uns die grüne Brille

aufsetzen und damit alle anderen Politikfelder neu begucken.“

Viele RednerInnen hatten jedoch noch ganz andere, zwischenmenschliche Ursachen für die Partei-Probleme ausgemacht: „Den Anpassungsprozeß - auch von vielen Abgeordneten“ (Anni Ahrens) - „Daß wir wirklich nicht miteinander streiten können“ (Hucky Heck) - „Es wird nicht weitergedacht, wie wir über

diesen Mißstand hinwegkom men. Wie wir den per sönlichen Umgang in der Partei tatsächlich verändern können.“ (Uwe Helmke) Und der Abgeordnete Martin Thomas wünschte sich, „daß wir von den Versammlungen mit Energie hinausgehen.“ Ein Wunsch der gestern nicht ganz unerfüllt blieb.

Barbara Debus