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„Es ist immer wieder dasselbe gewesen“

Ein Mordprozeß in der DDR sorgt für Aufsehen: Ein Ehepaar soll fünf seiner Kinder kurz nach der Geburt getötet haben / Als Anstifterin gilt bisher die Frau / Die Angeklagten können sich nur schwer erinnern und keine Motive vorbringen  ■  Aus Magdeburg Heide Platen

Das Magdeburger Bezirksgericht ist ein ruinöses Gebäude. Im verfallenen Dachstuhl nisten die Tauben. Die ZuschauerInnen kommen mit der Straßenbahn. Sie tragen die einschlägigen Boulevardzeitungen unter dem Arm. Zum wohl ersten Mal ist ein Mordprozeß in der DDR auch ein Sensationsprozeß.

Angeklagt ist das Ehepaar Manfred und Margitta F. aus der Kleinstadt Wernigerode im Harz. Beide haben gestanden, in den Jahren 1984 bis 1988 fünf neugeborene Kinder getötet zu haben. Sie hinterließen keine Spuren. Margitta F. gebar die Kinder, vier Jungen und ein Mädchen, in schneller Reihenfolge im Juli 1984, Juli 1985, Juli 1986, Oktober 1987 und im Dezember 1988. Zu dieser Zeit hatte die Familie bereits fünf Söhne, die in den Jahren 1971 bis 1983 zur Welt gekommen waren. Ein sechstes Kind war tot geboren worden.

Margitta F. ist 37, Manfred F. 40 Jahre alt. Sie haben 1971, nach einer kurzen Urlaubsbekanntschaft, geheiratet. Der Mann, auf der Flucht aus einer zerrütteten Familie, zieht sofort in das Elternhaus der Frau ein. Sie kellnert in einem Ferienheim, versorgt daheim den blinden Vater und die kranke Mutter.

Die F.s werden - unter einem für westdeutsche Verhältnisse mäßigen - Blitzlichtgewitter in den holzgetäfelten alten Gerichtssaal geführt. Beide sind hager, blaß, schlurfen gebeugt, mit gesenktem Kopf an ihre Plätze. Sie sehen beide wesentlich älter aus als sie sind. Angeklagt sind sie wegen gemeinschaftlichen Mordes und Totschlags in mehreren Fällen, die Frau auch wegen Anstiftung.

Im Ofen verbrannt

Die Taten geschahen, so steht es in den Vernehmungsprotokollen der Volkspolizei, jedes Jahr, fünfmal hintereinander, immer nach dem gleichen Procedere. Warum die Schwangerschaften, jedesmal, auch dem Ehemann verborgen blieben, ist bisher nicht nachvollziehbar. Sie informierte ihn erst kurz vor der Geburt. Wenn die Wehen einsetzten, holte er eine alte Decke und Zellstoff aus dem Kleiderschrank. Die Frau legte sich nieder, der Mann war Geburtshelfer. Er zog das Kind mit seiner zellstoffumwickelten Hand aus dem Geburtskanal auf die unter Margitta F. ausgebreitete Decke und dämpfte das Schreien des Neugeborenen mit dicken Lagen Zellstoff. Beide warteten auf die Nachgeburt. Dann schlug er das Kind fest in die Decke ein und verstaute es in einem abschließbaren Wäschekorb im Schlafzimmer. Beide legten sich dann in einem anderen Raum schlafen. Am anderen Tag oder wenige Tage später öffnete der Vater die Kiste und verpackte das Bündel in einer Papiertüte. „Steif wie ein Brett“ seien die Kinder gewesen und hätten „säuerlich gerochen“, es sei „immer dasselbe“ gewesen, sagt er im Gerichtssaal. Er brachte die Pakete aus dem Haus und verbrannte sie an seinem Arbeitsplatz. Er war Heizer. Da sei das nicht aufgefallen: „Jeder hatte da mal was zu verbrennen.“

Die Taten werden im Gerichtssaal stereotyp. Das Grauen läßt sich nur noch an den kleinen Unterschieden ausmachen. Der Vorsitzende Richter, Uwe Richard, versucht, diese Differenzen - mühselig zerrend und grabend - aus dem Gedächtnis der beiden Angeklagten zu befördern. Deren Erinnerung ist monoton und seltsam verwaschen. Die wenigen Details können sie den einzelnen Jahren nicht mehr zuordnen. Eines der Kinder hatte eine verschlungene Nabelschnur, schrie auch nur kurz. Welches? Das wissen sie nicht mehr. Gab es 1985 wirklich eine Geburt? Waren es vier oder fünf Kinder? Manfred F. weiß auch das nicht mehr genau. Er erinnert sich besser an den Tod des Schwiegervaters, an die Urlaubsreisen. Die habe ihm die Polizei als Orientierungsdaten genannt. Nur deshalb sei ihm wieder eingefallen, daß da noch ein fünftes Kind gewesen sein müsse.

Und da sind andere Erinnerungen, die dem stumpfen Schrecken hinzugefügt werden. Zu einer Verbrennung geht das Ehepaar F. gemeinsam auf das Gelände einer ehemaligen Firma des Mannes. Sie haben ihren jüngsten Sohn in der Sportkarre dabei. Ein Familienausflug fast, der Kleine will Kastanien sammeln. Nur: unter ihm, auf der Ablage des Kinderwagens, liegt die eingewickelte Leiche eines toten Säuglings. Der Mann schleicht sich, während Frau und Kind zu den Bäumen gehen, über die Kohlenrutsche zum Heizofen und verbrennt das Paket.

Söhne helfen mit

Bei der letzten Geburt ruft die Mutter die beiden ältesten Söhne, damals 14 und 16 Jahre alt, zu Hilfe, als der Mann es nicht schafft, rechtzeitig von der Spätschicht nach Hause zu kommen. Sie verfahren, auf Anweisung der Mutter, mit diesem Kind genauso wie der Vater in den vier anderen Fällen. Diesmal sei es ein Mädchen gewesen. Sie habe, sagt Frau F., dieses eigentlich gern behalten wollen. Es habe noch gelebt, als ihr Mann von der Arbeit kam. Sie habe es weinen gehört und mit ihrem Mann darüber geredet. Er erinnert sich nicht an dieses Gespräch. Kurze Zeit später sei er zu einer Feier gegangen, nachdem er gesehen habe, „daß alles in Ordnung war“.

Frau F. bestreitet nichts. Auf die Frage nach dem Warum, die ihr Richter Richard immer wieder drängend stellt, weiß sie keine Antwort. Allmählich schält sich die eine oder andere Möglichkeit heraus, die dem Richter, wie ein rettender Strohhalm für sein Verständnis der Tat, logisch erscheinen mag. „Ich wollte keine Kinder mehr“, sagt sie einmal. Für Mord habe sie das nicht gehalten. Wofür dann? „Unterlassene Hilfeleistung“, murmelt die Frau, aus deren Wortschatz dieser Begriff nicht stammen kann. Ihr Mann erklärt, er habe nicht gedacht, „daß das hier alles auf Mord rausläuft“. Beide Angeklagten sind akustisch schwer zu verstehen. Die helle, kleine Stimme von Margitta F. verliert sich im Saal, die von Manfred F. hallt unverständlich, laut und unmoduliert.

Heillose Knoten

Das Elend der Angeklagten, ihre Erscheinung, ihr Leben, ihre Taten entziehen sich dem Verständnis und lassen viel Raum für Selbstgerechtigkeit. Die als Gutachterin bestellte Psychologin, proper und selbstgewiß, fragt ihre Lektion ab: „Sie wissen, was mit Kindern passiert, die nicht versorgt werden?“ „Sie sterben“, flüstert Frau F. Staatsanwalt Bohmeier nimmt die Gelegenheit wahr, die Errungenschaften der DDR zu loben. Die Familie habe doch alle Hilfe bekommen, Miet- und Urlaubszuschüsse, Kleidergeld. Bohmeier: „Was für eine Waschmaschine hat Ihnen denn der Staat geschenkt?“ Frau F.: „Eine halbautomatische.“ Vorsitzender Richard: „Die kostet 1.500 Mark, das ist doch keine Kleinigkeit!“

Psychische und materielle Not, Überforderung, mangelnde Bildung, der seit 1984 ständig hohe Schnapskonsum in der Familie werden aktenkundig, sind aber im Verfahren nur am Rande Thema. Anderthalb Tage lang widmet das Bezirksgericht vor allem dem Vorfeld der Taten. Und das ist nach Meinung der meisten Prozeßbeteiligten die Empfängnisverhütung, die die Frau nicht betrieben hat. Stunde um Stunde wird Frau F. immer wieder befragt, warum sie die Pille nicht genommen hat, warum sie nicht abgetrieben hat, warum sie Schwangerschaftsberatung nicht in Anspruch nahm, nicht zum Arzt ging, 1984 einen Termin zum Einsetzen der Spirale verpaßte. Kondome, interpretiert der Richter ihre Aussage, wollte sie nicht, die Pille nahm sie einmal drei Monate. Sie habe sie nicht vertragen. Richter Richard geht bis ins kleinste Detail. Ihm dabei zu folgen heißt anzunehmen, daß Verhütung und Sorge für die Kinder ausschließlich ihre Sache gewesen seien. Hier verstricken sich die Widersprüche des Ehepaares zu einem heillosen Knoten. Der Mann, der die Schwangerschaften übersah, sie mißbilligte und die Verantwortung ausschließlich seiner Frau anlastet, will die Kinder nur widerstrebend umgebracht haben. Die Schuld für die Empfängnis weist er seiner Frau zu. Sie habe „das alles immer gemacht“. Am Vormittag des zweiten Verhandlungstages stellt Rechtsanwalt Wolff endlich die erlösende Frage an Manfred F.: Warum er denn immer wieder mit ihr geschlafen habe, auch nach dem „dritten, vierten Mal“ noch? Manfred F. steht mit gesenktem Kopf da, bringt kein Wort heraus. „Die Idee ist Ihnen nicht gekommen?“ fragt Wolff nach. Manfred F. hat keine Antwort.

„Ich weiß nicht“

Margitta F. klammert sich an eine Aussage. Sie habe „Angst vor Ärzten gehabt, besonders vor Frauenärzten“. Sie habe sich außerdem nicht zur Abtreibung getraut, nachdem sie gehört hätte, daß die Ärzte in der Wernigeroder Klinik „was dagegen“ hätten. Daß sie in einen anderen Ort hätte fahren können, habe sie nicht gewußt. Auch dies ist ihr, stellt ihr Anwalt Ulrich Wolff fest, gerade erst in den Mund gelegt worden. Seine Mandantin sagt überhaupt zu allem, was das Gericht ihr als Motiv vorschlägt, und sei es noch so widersprüchlich, ja. Er befragt sie nach diesem Verhalten und überfordert sie damit so, daß sie nach langem Schweigen wiederum nur noch sagen kann: „Ich weiß nicht.“

Rechtsanwalt Wolff wirft dem Gericht gegenüber ein Problem der DDR-Justiz auf, das sich mit der „Wende“ stellt. Bisher sei es geltendes Recht, daß der Zugang der Rechtsanwälte zu ihren Mandanten generell von der Gnade der Staatsanwaltschaft abhänge. Meist sei dies erst, wie in diesem Fall, nach Abschluß der Ermittlungen möglich. Er war bei keiner der Vernehmungen zugegen und ist sich sicher, daß seine Mandantin nicht ordnungsgemäß über ihre Rechte belehrt worden ist. Dies sei bei einer möglichen Revision des Prozesses nach neuen Gesetzen ein schwerer Verfahrensfehler. In Gesprächen mit Frau F. habe er festgestellt, daß sie bisher nicht einmal in der Lage gewesen sei, zwischen den Anklagepunkten Mord und Totschlag zu unterscheiden. Auch nach DDR-Recht gälten für die Mutter während und nach der Geburt mildernde Umstände bei Kindstötung. Er halte deshalb die Mordanklage, zumindest gegen die Frau, für verfehlt. Diesem Antrag gab Vorsitzender Richard nach der Mittagspause des zweiten Verhandlungstages statt. Er unterbrach das Verfahren, um anhand von Tonbandmitschnitten zu prüfen, ob die Vernehmungen ordnungsgemäß verlaufen sind. Die Verhandlung wird am kommenden Donnerstag fortgesetzt.

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