: Neuruppin erklärt den Düsenjägern den Krieg
■ Eine Kleinstadt macht für den Abzug der Roten Armee mobil / BürgerInnen kämpfen gegen sowjetische Militärmaschinen Unterschriftenkampagne und Besetzung des Flugplatzes der Roten Armee / Warten auf Verhandlungen in Wien
Neuruppin (afp) - Auf den Schreibtisch des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow flattert in diesen Tagen ein Brief aus Neuruppin. Bereits 7.800 BürgerInnen der Kleinstadt zwischen Berlin und Rostock, so klärt Pfarrer Heinz Joachim Karau den sowjetischen Politiker darin auf, unterstützen einen Appell zur Auflösung des Flugplatzes der Roten Armee. Und täglich würden es mehr Unterschriften: „Die Bürger sind darüber empört, daß trotz der völlig veränderten politischen Verhältnisse weiterhin über unserer Stadt Krieg geübt wird.“ Der Brief eröffnet das vorerst letzte Gefecht im jahrelangen Kampf der Neuruppiner um Ruhe in der Luft.
Seit Jahrzehnten brummen von morgens bis spät in die Nacht die Flugzeugmotoren und rauben den 27.000 EinwohnerInnen Nerven und Schlaf. Wo sich aber früher nur leises Murren regte und den Stadtrat zu einem ergebnislosen Gespräch mit den Sowjets in aller Völkerfreundschaft bewegte, gehen die NeuruppinerInnen nun auf die Straße. Daß ihnen dabei selbst militärisches Sperrgebiet nicht mehr heilig ist, mußten die Militärs in der vergangenen Woche erfahren: Da überkletterten einige der rund 6000 DemonstrantInnen den Zaun zur Landebahn und diskutierten mit den Soldaten, deren Abzug sie lieber heute als morgen sähen. Pfarrer Karau, der als Moderator des örtlichen Runden Tisches unfreiwillig an die Spitze des Protestes geriet, befürchtet bei der nächsten Kundgebung sogar eine Besetzung der Rollbahnen und Gewalttätigkeiten.
„Die Offiziere haben schon darauf hingewiesen, daß sie nach dem Stationierungsabkommen von 1957 militärische Gewalt anwenden dürften“, berichtet Karau. Dieses Abkommen regelt auch die erlaubten Flugzeiten, um die sich aber nach den Erfahrungen der Bevölkerung kaum ein Flieger schert. „Heute morgen hat's um halb sechs angefangen“, sagt Kaufmann Michael Boller, „und manchmal donnern sie bis Mitternacht.“ Nach dem jüngsten Protestmarsch sei es eher noch schlimmer geworden, „das ist wie eine Gegendemonstration“. Eigentlich dürften die Düsenjäger nur montags, mittwochs und freitags zwischen sechs und 22 Uhr aufsteigen.
Die erste Demonstration Mitte November organisierten die Kirchengemeinden des Ortes, und der Friedhofsgärtner begann mit der Unterschriftensammlung. Er ist erst vor einem Jahr nach Neuruppin gezogen und leidet deshalb besonders unter dem Fluglärm. „Wir Alteingesessenen sind ja schon alle abgestumpft“, sagt Karau.
Allerdings stören viele Bürger nicht nur der Krach und die Übungsbomben, die gelegentlich neben dem Abwurfplatz landen und eine Scheune demolieren. Die 20jährige Astrid, die vor acht Wochen eine Tochter bekommen hat, behauptet auch, die sowjetischen Frauen kauften die Läden leer, vor allem Kinderkleidung und Schuhe seien nur schwer zu bekommen. „Konflikte gibt es aber noch nicht“, beeilt sie sich zu versichern.
Darin stimmt die junge Mutter mit Pfarrer Karau überein, der betont, sein Schreiben und die Unterschriftensammlung richteten sich „nicht gegen die sowjetischen Menschen“. Von denen gibt es mit Familienmitgliedern fast so viele wie Neuruppiner. Selbst wenn die UdSSR alle Soldaten abziehen wollte, würde ihre Unterbringung in der Heimat schier unlösbare Probleme bereiten. Nicht zuletzt wegen Wohnungsmangels hat Moskau den angekündigten Abzug einiger Divisionen aus der DDR zunächst gestoppt.
Den FlugplatzgegnerInnen bleibt ohnehin nur die Hoffnung auf Berlin und Wien. Von einem Erfolg der dortigen Abrüstungsverhandlungen hänge die Schalldämpfung in Neuruppin ab, betonte das Oberkommando der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte gegenüber Stadtrat und Rundem Tisch.
Außerdem müßte auf Regierungsebene das 33 Jahre alte Stationierungsabkommen geändert werden, weshalb Karau auch an Ministerpräsident de Maiziere und seinen Verteidigungsminister Eppelmann einen Brief abschickte. „Für Volksarmee und Bundeswehr ist kein Feind in Sicht, auch nicht für die Militärbündnisse Warschauer Pakt und Nato“, schrieb der Pfarrer am Mittwoch dieser Woche in der Lokalzeitung. Auch Kaufmann Boller meint, daß nach dem erhofften Abzug der Flieger „überhaupt keine Truppen“ mehr in seine Stadt kommen. Zunächst aber wartet man in Neuruppin gespannt auf Antwort aus Moskau.
Gerold Büchner
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