: ALS GESCHICKTE WIRD DIE KUGEL ZUM GESCHICK
■ Begegnungen auf der schiefen Ebene
Wenn abends dann der Tag getan oder erlitten worden ist, geht man in die Lieblingsbar. Dort um die Theke herum gegen Mitternacht stehen oder sitzen - was ist cooler, besser, Stehen oder Sitzen? - nur wenige. Die gehören hierher, weil sie nirgendwo anders hingehören. Einsame Gestalten, die hier sind, um zu trinken und zu warten. Und betrunken zu werden. Hinter der Theke bedient freundlich der alte Mann.
An den Wänden blättert grün und alt die Farbe langsam ab. Zunächst sind nur Männer da. Später kommen auch Frauen. Über der Bar laufen manchmal, kaum beachtet, alte Pornofilme; wippende Männerärsche: „Give me a ride“. Manchmal auch merkwürdige Splatter- oder Killerfilme. Für ein grausames Kino - ha, ha. Zwischen zwei Bieren blickt man hoch, da fliegt einem plötzlich blutiges Fleisch entgegen. Das hilft keinem aus seiner schönen Einsamkeit. Gegen den Großstadtschmerz kommen dann zwei und gehen nach hinten ficken mit Ansage im Frauenklo - und kommen nie zurück. Warum kommen die nicht zurück? - Irgendwann werden die schon zurückgekommen sein. Hinten stehen zwei junge Türken, die trinken nie was; die flippern ins Endlose und sind gegen Hertha. Warum sind sie für die Bayern?
Der verzögerte Drop-Catch
Im Hinterraum der Lieblingsbar steht der Lieblingsflipper. Er ist so groß wie ein Mensch und steht doch auf allen vieren wie ein Tier. In den Schlitz an seiner Vorderfront wirft der Spieler eine passende Münze. Eine 10 leuchtet auf dem Frontglas: für fünf Mark wird es zehn Spiele geben. Mit dem linken Daumen drückt der Mann schnell viermal auf den roten Spielfreigabebutton an der Vorderseite. Dies bewirkt, daß sich das Spieleregister um vier vermindert, sämtliche alte Ergebnisse gelöscht werden, daß auf vier Anzeigetafeln nur noch Nullen leuchten. Der Beobachter schließt daraus, daß er mit vier anderen jungen Menschen spielen möchte. Die stehen neben ihm und starren auf die Maschine. Eine silberne Kugel erscheint. Die Hand des Mannes zieht am Plunger. Der Plunger ist ein gefederter Mechanismus an der Vorderseite des Flippers. Er besteht aus einem Metallstab, dessen eine Seite aus dem Flipper herausragt und dessen anderes Ende, mit einer Gummispitze ausgestattet, sich in der Maschine befindet. Der Mann faßt zärtlich den Plunger, zieht ihn zurück. Dabei wird eine Feder zusammengedrückt. Dann läßt er den Plunger los. Die silberne Kugel schnellt aufs Spielfeld. Auf dem Spielfeld, einer schiefen Ebene, befinden sich strategische Ziele und eine Vielzahl von Hindernissen, die auf verschiedene Art und Weise auf das Zusammentreffen mit der Kugel reagieren. Auf dem Spielfeld befinden sich Laufschneisen, das sind enge Kanäle, durch die die Kugel gerade so paßt, Droptargets hintereinander in einer Reihe, eine kleine Scheibe kippt wie die beweglichen Ziele in einer Schießbude unter die Spielfeldoberfläche, wenn sie von der Kugel getroffen wird, und macht den Weg frei zum nächsten Droptarget. Löcher sind links und rechts oben durch Laufschneisen verbunden, in die die Kugel, fällt sie ins Loch, durch sogenannte Kicker geschleudert wird, um ins nächste Loch zu fallen oder festgehalten zu werden - dann kommt die nächste Kugel. Trifft der Spieler ins nächste Loch, kommen plötzlich zwei Kugeln verwirrend herunter. Und ständig blinkt es noch schöner, wenn wieder einer die Raumbeleuchtung ausgestellt hat. Und die Kugel trifft häufig auf ihrer hektischen Reise auf eine Gummibarriere, von der sie mit erhöhter Geschwindigkeit wieder abprallt - „eine Tatsache, die das physikalische Gesetz, daß die Abprallgeschwindigkeit nicht größer sein kann als die Aufprallgeschwindigkeit, zu verletzen scheint“. Die Lösung dieses Paradoxons („Wie man besser flippert“) ist ein Kicker, eine Vorrichtung, die von einem Magnetschalter in Bewegung gesetzt wird, der betätigt ist, sobald die Kugel auf die vor ihm liegende Gummibarriere trifft. Die Kugel erreicht Geschwindigkeiten von vier Meter pro Sekunde auf ihrer Reise zu den Flippern am unteren Ende des Spielfeldes. Die Flipper betätigt der Spieler mit zwei Knöpfen an den Seiten, auf die er seine Mittelfinger - er ist Angehöriger der sogenannten „Mittelfingerschule“ - preßt. Bei Betätigung dieser Knöpfe schnellt eine Flosse hoch aus der Down- in die Up-Position, verhindert das Verlassen der Kugel, die, so der Spieler nichts machte, in den sicheren Tod gehen würde. Zudem schleudert der Spieler durch Betätigung dieser Flossen die Kugel zurück ins Spiel und versucht dabei strategisch wichtige Ziele, deren Sinn und Bedeutung auf der Spielanleitung, die sich vor ihm gedruckt auf dem Gerät befindet, zu erreichen. Zu beachten ist: Einfallswinkel Ausfallswinkel. Zu beachten ist, daß der Spieler selten das wäre ein Anfängerfehler - die beiden Flossen auf einmal bewegt. Zu beachten: „Die Übertragung der Nervenimpulse“ des Gesehenen „zu den Fingern bis zur physischen Bewegung bewegt sich zwischen 150 und 250 Millisekunden“. Zu beobachten sind: gekonnte Links- Rechtskombinationen, sogenannte Doppelflips oder Doppelslaps, bei denen der Spieler in traumwandlerischer Sicherheit zunächst den einen Flipper aktiviert, der die Kugel, die ins Ende zu sausen droht, nur ganz knapp streift, um dann mit dem anderen, kaum Millisekunden später, nachzusetzen, und so die Kugel, sein Leben, doch noch ins Gelingen schießt. Zu beachten ist sein ausgefeiltes Catching, mit dem der Spieler die Kugel fängt, um sie mit einem Setshot aus ruhender Stellung, zielsicher weiterzuspielen.
Der Tip-Flip
Zwei weitere Flipper befinden sich an den Seiten, auf halber Höhe des Flipperuniversums. Tiefe Befriedigung zeigt sich auf dem Gesicht des Mannes, wenn ein Schuß gelingt. Vollbusige blonde Amerikanerinnen sieht man auf dem Frontglas; an einer Tankstelle im weiten Westen neben gewaltigen Trucks. Links auf dem Spielfeld schießt er sich Coffee, oder Donuts, das bringt nicht viel, oben, in der Mitte, sind Targets, Schilder des Glücks, die ihn von Denver nach Baltimore nach Jacktown bringen. Fidele Countryklänge erklingen. Er tutet. Oft rüttelt und schüttelt der Mann die Maschine, um die Kugel in eine von ihm gewünschte Bahn zu lenken, sie anzuspornen, sie zu retten. Immer schneller wird die Kugel von den Bumpern durchs Spiel und Leben geworfen; die Musik wird schneller, immer mehr Instrumente ergänzen das Straßenorchester. Wenn zwei silberne Kugeln auf ihn zukommen und die Kugel das Leben symbolisiert, sind es jetzt zwei. Leben.
Neben dem Flipper in der Lieblingsbar steht ein Videospiel: Operation Thunderbolt; da geht es nur darum, Leute totzuschießen; um den Tod geht es da. Und der Jeanshintern dessen, der immer fröhlich zuschaut, wie Leute totgeschossen werden, wackelt in peinigender Nähe zur rechten Flipperhand. Und nächstes Mal kriegt der Jeansarschträger eins aufs Maul.
Jeder Spieler hat drei Kugeln. Manchmal spielen auch Frauen. Wohl weil der Automat eine Junggesellen-, populär, eine Wichsmaschine ist. Entwischt die Kugel aus eigner Schuld, streichelt der Mann beschwörend das Glas oder faßt sich erschreckt an den Kopf. Eine Spielerin hat sich vor dem Spiel gebadet und die Hände eingecremt. Der Mann beschimpft sie: die Creme floß mit Schweiß verbunden noch aus ihrer Haut und ließ ihn, den Geübten, wiederholt vom Flipperbutton abrutschen.
Ist das Spiel zu Ende, hat jeder der Spieler seine drei Kugeln verschossen, leuchtet, durch Zufallsgenerator gesteuert, das Matchlicht auf. Eine der zehn Zahlen: 10, 20, 30... Stimmt die erleuchtete Zahl mit den letzten beiden Ziffern des erzielten Punktergebnisses überein, gewinnt man ein Freispiel.
Dieser Flipperautomat ist sozial; die Punktzahl, ab der man ein Freispiel kriegt, verringert sich, je niedriger ein irgendwie (computerelektronisch) ermittelter Durchschnittsergebniswert der vergangenen Spiele war, bis daß auch das unglücklich dahinholpernde Leben am Gewinnerglück teilhaben kann.
Wenn der Mann sehr lange gespielt hat, lädt sich die Kugel statisch auf und beschreibt merkwürdige Kurven; nur selten zum Schaden wird sie eine kleine Ewigkeit im blinkenden Universum bleiben, das immer schneller und leuchtend schöner blinkt. Irgendwelche Lampen sind kaputt, das macht nichts, erhöht vielleicht noch die Schönheit, wenn's plötzlich Nacht wird im Flipperuniversum für wenige Sekunden. „Hurra, so ist einem zumute, wenn's in die Hölle geht - endlos auf der schiefen Ebene bergab, hurra, bergab in die Ewigkeit“ (Melville, Moby Dick).
Doch wenn der Spieler enttäuscht vom Tage seine Deprimiertheit nicht vergessen kann, überträgt sie sich auf die nun auch lust- und glanzlose Maschine, die ihn mit totgeborenen Kugeln narrt. Kugeln, die, kaum ins Spiel gebracht, trostlos, ohne daß sie der Spieler überhaupt mit seinen Flippern berührt hätte, ins Aus springen, die manchmal nach überaus kunstvollen Rettungsaktionen, denen es nicht vergönnt ist, mit gelingendem Leben belohnt zu werden, abgehen, wie der Flipperkünstler sagt.
Pässe von Flipper zu Flipper
Flippern ist wie Popmusik der jugendliche Versuch eines Wegs ins eigene Leben. Beim Flippern simuliert man die Vorgaben, an denen man im Leben zu reiben hat; listig versucht man diese Vorgaben zu verzaubern. So beginnt das Flippern meist irgendwo in der Pubertät, kurz hinter dem ersten onanistischen Vorgang. Der kleine Junge stellt sich, wie Aristoteles, unter einer Maschine etwas vor, in dem „das Kleinere das Größere beherrscht“. Deshalb haben Flipperautomaten so große Brüste.
Wir hatten kein Kino, so gingen wir in gymnasialen Freistunden zum Automaten, in Eddie's Bierbar. Aus der Musikbox gröhlte Gottfried Wendehals was von der Polonäse Blankenese - „Und jetzt geht es los mit ganz großen Schritten / und Erwin faßt der Helga von hinten an die Schulter“ -. Nachdem wir Kaffee getrunken und noch einen durchgezogen hatten, zogen wir zum Eight Ball; spielten, während im Hintergrund ganz andere Leute in ganz anderen Geschichten steckten; während der Wirt, ein kleines Männchen, Schlangeneddy zum hundertsten Mal von seiner Schlangennummer in der Vico-Torriani-Show erzählte, im Hintergrund, an der Theke - „den kennen wir schon, erzähl einen anderen“.
Der Bumper-Paß
Es ging nicht um den Wettkampf, wenn manchmal auch beschlossen worden war, daß der, der die niedrigste Punktzahl hatte, die nächsten Spiele bezahlen sollte; das war eigentlich schon Spielverletzung. Die Hälfte meines im Imbiß verdienten Geldes vertraute ich dem Automaten an. Der Automat beutete mich aus. Der Flipperautomat ist das Symbol des Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft. „Der Flipper selbstverständlicht eine Wirklichkeit, ... in der alles seinen Lauf nimmt und angesichts deren momentanisierender Instabilität (schiefe Ebene) sentimentale Zeitlosigkeiten, Moralismen und Teleologien umwegig erscheinen“ (F.W. Heubach). Als geschickte wird die Kugel zum Geschick. Wenn man zu sehr dran rüttelt, tilt der Flipper; beendet das Spiel.
Doch weist der Flipper auch auf mögliche Solidarität in einem starr geregelten Universum; so schaut man, während der andere spielt, nicht nur einem anderen Leben zu, sondern nimmt auch an diesem teil, und die Freispiele des Mitspielers sind auch die eigenen Freispiele.
Der Ort, an dem er steht, ist nicht unwichtig. In der Bar z.B., wo das Spiel von anderem Leben umgeben ist, wird die kollektive Vereinzelung in der Spielhalle aufgehoben.
Beim Flippern verbindet sich der psychische Apparat, von dem Freud spricht, mit dem elektronischen Apparat der Maschine. „Es existiert eine augenblickliche Konsumption der neuen Maschine, ein Vergnügen, das man autoerotisch oder automatisch nennen möchte, worin sich die Freuden einer neuen Verbindung ankündigen: neue Geburt, verführerische Ekstase, so als befreite der maschinelle Erotismus weitere schrankenlose Kräfte“, berichten der Philosoph Gilles Deleuze und der Antipsychiater Felix Guattari in ihrem Anti-Ödipus. Ob beim Flippern „die totale Identität von Sexualfunktion und Maschine, die Gleichschaltung zweier Potenzen zu einem 'industriellen Dionysoskult'“, wie Günther Anders meint, ins Werk gesetzt wird, sei dahingestellt.
Das Spiel des einsamen Flipperers „ist wahrscheinlich einzig als psychotische Erfahrung denkbar“, fährt Anders fort. „Er desertiert nun subjektiv und moralisch in das Lager der Geräte, in das der Kapitalismus ihn seit längerem hineingestellt hat.“
Der große Kaktus
Popart verband den Wunsch nach Jugendlichkeit als Lebenssinn mit der Industrie. Die Flipper, fast alle sind in Chicago hergestellt, sind popartige Kunstwerke. Situationen illustrieren sie - Tankstelle, Billard, selbst das Flippern wird künstlerisch Thema des Flippers. Weniger erfolgreich waren Popgruppenflipper (Stones, KISS, Elton John etc.), Playboyflipper - erreichte man bestimmte Ziele, wurden dem Spieler Pinupgirls zur Belohnung präsentiert - Filmflipper (Star Wars etc.). Sinnlos in jedem Fall waren Flippergeräte, auf denen keine prallbusigen Frauen, sondern Maschinen (Black Knight etc.) dargestellt waren. Deren Produktion wurde Mitte der 80er Jahre weitgehend eingestellt. Sinnlos waren auch Versuche, dem Gerät Sprache zu geben. Versuche, die übersahen, daß für das Flippern Intensitäten, also Sprachlosigkeit konstitutiv sind. Die mißachteten, daß der Spieler mit der Maschine ein neues Fleisch bilden soll. Der Flipper soll nur Geräusche machen.
Immer schneller sind die Flipperautomaten geworden, auf immer mehr Ebenen - sozusagen die Rückkehr metaphysischer „Hinterwelten“ (Nietzsche) - wird gespielt. Es gibt mittlerweile Automaten, auf denen - irgendwo - senkrecht geflippert wird und die Geschwindigkeit der Kugel fünf oder sechs Meter pro Sekunde überschreitet. Doch der Trend geht zurück zur Einfachheit: Die Spielfelder prahlen nicht mehr so sehr mit ihren technischen Raffinessen. Neue, in ihrer naiv anmutenden Symbolik äußerst raffinierte Dinge sind eingeführt worden. So gibt es bei neueren Flippern Fallen, durch die die Kugel plötzlich und unsichtbar für den Spielenden in den Untergrund verschwindet. Und wiederkehrt. (Um die männliche Angst beim ersten Ficken, die Angst davor, daß der Schwanz nicht wieder rauskommt, dramatisierend zu entkräften?)
Nur wenigen Spielern ist es vergönnt, ihr Spiel in eine quasi zenbuddhistische Übung zu verwandeln, in der das Spiel als Abbild der Schein- und Schaumwelt wird. Nur manchen gelingt es. Manchmal. Konzentriert, verzaubert versinnbildlicht ihr endloses Spiel die Idee eines endlosen Kreislaufs von Leben, Tod und Wiedergeburt, das dem Konzept des zenbuddhistischen Samsara ähnelt. Jeder Extraball wird so zu einer Stufe erhöhter meditativer Aufmerksamkeit; jedes Freispiel ist ein neues Leben. Sie spielen weiter in eine ununterschiedene Ewigkeit, die in der sprachlosen, nicht dualistischen buddhistischen Auffassung, mit dem Nirwana gleichzusetzen ist. Dem Flippermönch schwinden im Spiel jegliche Sinneseindrücke, die zur Voraussetzung ja noch den Unterschied zwischen Gefühl und Gefühltem haben. Er vergißt die Zeit, verschwindet aus ihr, verschwindet im Flipper, hinterläßt den staunend ihn Umstehenden tausend Freispiele, mit denen diese nichts anzufangen wissen.
Man nannte mich nur FKK - FlipperKönigKiel.
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