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MOBILES MILLIONENPUBLIKUM

■ Kein Ort der Welt ist sicherer als ein Kairoer Taxi

Malesch“, sagt der Taxifahrer und weist mit vieldeutiger Handbewegung auf das Automeer vor uns. Es ist rush hour in Kairo und nichts geht mehr. „Malesch“, wiederholt er und zündet sich eine Cleopatra-Filter an. Es dauert nur einige Tage bis man das wichtigste Schlüsselwort dieser Stadt verstehen und sprechen kann. Sich bereits daheim einige elementare arabische Vokabeln einzuprägen, mag zweifellos hilfreich sein; doch die Zauberformel des ägyptischen Alltags steht leider nur in sehr wenigen deutsch-arabischen Sprachführern. Malesch heißt: es macht nichts, egal, sei's drum. Wenn die verbeulte Beifahrertür nur mit einem kräftigen Stoß zu öffnen ist: Malesch. Wenn die Temperaturen auf 40 Grad steigen und das Taxi zur Sauna wird: Malesch. Wenn einem die Konkurrenz ein paar zahlungswillige Pauschaltouristen vor der Nase weggeschnappt hat: Malesch, malesch.

Mein Chauffeur, ein Mann in den wohlgenährten Vierzigern, dessen aufreibender Job bereits einige tiefe Furchen in Stirn und Fahrzeug gegraben haben, vernichtet seine Cleopatra im Aschenbecher und schreitet zur Tat. Er legt den ersten Gang ein und demonstriert mir ohne Aufpreis einen typisch ägyptischen Ausbruchversuch aus der endlosen Stauherde. Mittels Hupe und Zuruf hat er Kinder und einen Eselskarren vom Straßenrand verscheucht und somit die vierspurige Fahrbahn kurzerhand um eine fünfte Spur erweitert. Knappe zwei Quadratmeter auto- und menschenleeren Straßenasphalts sind in Kairo allemal ein Geschenk Allahs. Diesen Platz nicht auszunutzen, käme einer Unterlassungssünde erster Ordnung gleich. Gleichsam als himmlische Belohnung für diese entschlossene Tat kommt auch prompt wieder Bewegung in den stockenden Verkehr.

Wie viele Leute denn zur Zeit in dieser Stadt leben, will ich von meinem Fahrer der furchtlosen Gestalt wissen. Er weiß es nicht genau, beteuert aber, daß es in jedem Fall zu viele sind. Aber als Taxifahrer hat man andere Sorgen als die Bevölkerungsstatistik. Kairos Stadtplaner und Volkszähler sind jedoch kaum weniger ratlos. Amtliche Einwohnerzahlen erheben gar nicht erst den Anspruch auf Vollständigkeit, Stadtpläne sind lückenhaft und geben über das Straßennetz der Vororte nur unzureichenden Aufschluß. Die meistgehandelten Schätzungen schwanken zwischen 14 und 16 Millionen EinwohnerInnen und beziehen sich auf eine Stadt, die einst für zwei Millionen Menschen konzipiert wurde.

Was Kairos Mann von der Straße mit einem Schulterzucken und der bereits erwähnten Zauberformel quittiert, läßt europäische TouristInnen, die daheim an soziale und körperliche Distanz gewöhnt sind, meist die Nackenhaare zu Berge stehen. Das ist schade und zudem vollkommen überflüssig. Wer die Ordnung hinter dem scheinbaren Chaos zu entdecken versucht und zudem einige einfache Regeln beachtet, bewegt sich in Kairo allemal sicherer als beispielsweise auf der Berliner Stadtautobahn.

Kairos Verkehrssystem ist ein orientalisches Gesamtkunstwerk. Fortbewegung für Fortgeschrittene, Spektakel für die fünf Sinne. Jede Busfahrt gleicht einer Körperertüchtigung, jede Taxitour wird zur Lektion in Fatalismus. Auch wenn der vielstimmige Lärm aus Händlergeschrei, Motorengeknatter und den alles übertönenden Autohupen dem flüchtigen Besucher als Vertonung einer vollkommenen verkehrstechnischen Entropie anmutet; Kairo ist nichts weniger als das. Das mobile Millionenpublikum auf engen Trottoirs und in übervollen Stadtbussen verkörpert keine Anarchie, sondern bewegt sich nach einem höchst simplen und daher funktionierendem Regelsystem, das sich in zwei Sätzen zusammenfassen läßt: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. An sich selbst denkt man, indem man auf sich aufmerksam macht. Dieses Leitmotiv mit Egoismus oder gar Rücksichtslosigkeit zu verwechseln, wäre ein typischer Fehler europäischer Denkweise. Dabei bietet gerade Kairo eine unvergeßliche Gelegenheit, die eigenen eurozentrischen Scheuklappen ein wenig zu öffnen. Doch die Gelegenheit will er-fahren werden.

Wer aus Angst um Auto und Leben seinen internationalen Führerschein daheim gelassen hat und auch den zugegeben kräftezehrenden Nahkampf in den Stadtbussen scheut, dem werden die schwarzen Peugeout- und Fiat-Taxis bald zum unverzichtbaren Vehikel bei der Durchkreuzung des Großstadtdschungels.

„Want a taxi?“ tönt es vor der Ramses-Station, dem Kairoer Hauptbahnhof gleich von drei Fahrern auf mich ein. Auch wenn das Anheuern eines Taxis in der Regel kein Problem darstellt und das Angebot an zentralen Punkten die Nachfrage meist übersteigt, sollten zuvor einige wichtige Grundregeln beachtet werden. So sitzen Frauen beispielsweise niemals vorn neben dem Fahrer, sondern immer hinten (Regeln sind dazu da, daß frau sie ignoriert. d.sin). Als ich meinen drei potentiellen Chauffeuren das Ägyptische Museum als Fahrtziel nenne, bilden sie sofort ein dreieiniges Preiskartell, das sich nach einigen Verhandlungen jedoch aufweichen läßt. Die Aushandlung des Fahrpreises stellt ein komplexes Ritual dar, dessen orientalische Nuancen erst nach einigen Touren verständlich werden. Grundsätzlich gilt: Ausländer zahlen immer mehr, meist sogar ein Vielfaches des einheimischen Preises. Wer den geforderten und natürlich völlig überteuerten Fahrpreis kommentarlos akzeptiert, ist für die Ägypter ohnehin ein Dummkopf, der um sein Geld erleichtert werden will. Überhöhte Preise stellen nach den Gesetzen des Koran ohnehin nur eine Sünde von sehr geringem Ausmaß dar.

Der noch leidlich guterhaltene Peugeot, dessen Fahrer schließlich meinen Zuschlag erhält, erweist sich als Fahrzeug, dessen Stellung in der Verkehrs-Hackordnung ziemlich weit oben angesiedelt ist. Angeführt wird diese Hierarchie von Bussen und großen Lastwagen, denen prinzipiell fast alles erlaubt ist und von deren Fahrern man grundsätzlich das Schlimmste erwarten muß. Ihnen untergeordnet sind Pkw und Taxen, die je nach Größe, Hupe und Fahrer-Selbstbewußtsein ebenfalls weitgehenden Respekt genießen. Radfahrer, Mopeds, Hand- und Lastkarren nehmen den Platz ein, der ihnen übrig gelassen wird. Fußgänger dürfen froh sein, daß sie laufen können, während alte und gebrechliche Menschen besser nicht die heimische Straßenseite verlassen.

Die fünf roten Ampeln, die der Peugeot-Kommandant auf dem Weg zum Museum ignoriert hat, bedeuten für die meisten automobilen Ägypter nicht viel mehr als ornamentales Beiwerk. Solange ihre Funktion nicht durch ein halbes Dutzend Verkehrspolizisten unterstrichen wird, besitzen sie nur sehr marginale Bedeutung.

Sicherlich, Kario sei überfüllt, erklärt auch mein Taxifahrer, um im nächsten Moment zu beweisen, daß er jede Chance nutzt, um Platz zu schaffen. Einem anderen Kollegen, der sich mit seinem Fiat bereits bis auf Handtellerbreite genähert hat, gibt er per Dauerhupe zu verstehen, daß er keine weitere Annäherung mehr dulden wird. Als der Peugeot schließlich auf der Mitte einer völlig überfüllten Kreuzung zum Stehen kommt, steigt noch eine ägyptische Familie mit zwei Kleinkindern in den Fond und verwickelt den Fahrer sofort in lautstarke Verhandlungen um den Fahrpreis. Eingekeilt zwischen werbetüchtigen Straßenhändlern, unerschrockenen Fußgängern, die im Slalom ihre Lücken durch die Autos suchen und debattierenden Mitfahrern, erinnere ich mich an heimatliche Wörter wie „Lärmschutzwall“, „Verkehrsberuhigung“ oder gar „Sicherheitsabstand“. In Kairo klingen diese Wortungetüme wie Nachrichten aus einer fremden Welt, in der Verordnungen schon lange jede Form von Alltags -Kommunikation ersetzt haben. Ob man einem Ägypter erklären kann, was ein Sicherheitsgurt oder etwa ein Motorradhelm zu bedeuten haben?

Am Midan Tahir, dem Verkehrsknotenpunkt Kairos, läuft ein jeder Taxifahrer zur Höchstform auf. Aus sechs Hauptstraßen quillt der Verkehr auf den Platz, in dessen Mittelpunkt zwei große Busbahnhöfe die automobile Überfüllung komplett werden lassen. Der Tahir ist nicht nur Adresse des ägyptischen Museums, sondern auch der amerikanischen Universität, des Außenministeriums sowie einiger weiterer wichtiger Behörden, die pausenlos Fußgänger aller Art ausspucken. Ein grundsätzliches Problem des städtischen Straßennetzes liegt in der Tatsache, daß der Großraum Kairo - etwa vergleichbar mit der Größe Hessens - über keinerlei Umgehungsstraßen verfügt. Alle Überlandwege führen mehr oder weniger direkt ins Zentrum und damit auch fast zwangsläufig auf den Tahir. Zwar sind die Ägypter stolz, daß sie 1987 mit französischer Hilfe die erste afrikanische U-Bahn in ihrer Stadt eröffnen konnten, jedoch ist eine Entlastung des überirdischen Verkehrs durch dieses neue Transportmittel kaum zu erwarten. Angesichts des rapiden Bevölkerungswachstums in Ägypten das Land wächst jährlich um rund eine Million EinwohnerInnen - erscheint der U-Bahn-Ausbau eher wie eine tragische Sysiphosarbeit.

Alle Wege führen zum Tahir, von hier sind alle wichtigen Sehenswürdigkeiten binnen einer halben Stunde per Taxi zu erreichen. Auf meinem nächsten Taxi-Lift, der mich vom Zentrum des Orkans, zum Khan el Khalili, dem größten ägyptischen Basar führen soll, zeigt sich der Kairoer Verkehr von einer weniger perfekten Seite und offenbart, daß es trotz aller phongewaltigen Kommunikation manchmal auch zu folgenschweren Mißverständnissen kommt. Vor einer Hauseinfahrt hat sich ein Mitsubishi in die Seite eines Gemüselasters gekeilt. Die beiden Fahrer scheinen mit Leib und Leben davongekommen zu sein, denn kein Blut, sondern lediglich pürierte Tomaten färben den Asphalt. Eine vielköpfige Schar aus Augenzeugen und Schaulustigen sammelt unterdessen die letzten verwertbaren Exemplare aus dem roten Matsch. Natürlich ist Kairo alles andere als eine unfallfreie Zone. Laut Statistik ist die Unfallrate sogar bis zu zwanzigmal so hoch wie in vielen europäischen Ländern. Doch bei diesem Vergleichswert sollte man nicht vergessen, daß viele Kollisionen nur aus kleinen und kleinsten Blechschäden bestehen und Ereignisse wie das Tomatenunglück eher eine Ausnahme darstellen.

Das lautstark diskutierte Unglück am Straßenrand nötigt meinem Taxifahrer lediglich ein mißbilligendes Kopfschütteln ab. Sein Antlitz ist eine unerschütterliche Aura aus Ruhe, Souveränität und Selbstgewißheit. Als er einige Minuten später den Zwischenraum zwischen zwei voranfahrenden Bussen milimetergenau ausfüllt, lehne ich mich entspannt zurück und weiß: Kein Ort dieser Welt ist sicherer als ein Kairoer Taxi.

Martin Jahrfeld

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