„Dieses Fleckchen gelber Erde...“

■ Deng persönlich gab das Feindbild vor: Eine konterrevolutionäre Clique habe versucht, die sozialistische Ordnung abzuschaffen und eine „vollkommen verwestlichte bourgeoise Republik“ zu schaffen. Auf der Suche nach einem Feind, der diesem Bild entsprach, stieß man auf die im Sommer 1988 ausgestrahlte Fernsehserie „Heshang“ (etwa: „Der vorzeitige Tod des Gelben Flusses“). Der Autor Su Xiaokang stand nach dem 4.Juni 1989 auf der Fahndungsliste der chinesischen Polizei, konnte aber ins Ausland flüchten. Heuteist er Vorstandsmitglied der „Föderation für ein demokratisches China“ in Paris.

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Als man an den Kais von Humen das Opium verbrannte und so die schmachvolle chinesische Geschichtsperiode der Neuzeit einleitete, trennte bereits ein riesiger geistig-kultureller Graben China von der restlichen Welt. Der kulturelle Gegensatz zwischen einer expansionistischen, internationalen Handel treibenden und Kriege führenden azurblauen Zivilisation und einer an Agrarwirtschaft und Bürokratismus festhaltenden gelben Zivilisation ist so stark wie der zwischen Feuer und Wasser.

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Schon bei der ersten Konfrontation ließen die großen Schiffe und Kanonen des Westens die chinesischen Beamten und Gelehrten die Stärke der azurblauen Zivilisation schätzen lernen. So gab es die „Bewegung für eine Verwestlichung“ und die Strömung unter der Parole „Chinesisches als Substanz, Westliches zu praktischen Zwecken“.

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Die Minister der erstgenannten Fraktion kauften starke und feuerkräftige, gepanzerte Kriegsschiffe und errichteten Waffenfabriken. In der Jiangnan-Waffenfabrik in einem Vorort von Shanghai beherrschte man die westliche Technik bei weitem besser als in Japan. Als russische Gesandte ca. 1870 die weit im Nordwesten Chinas gelegene Waffenfabrik von Lanzhou besichtigten, erstaunte sie die überlegene Qualität der dort hergestellten Gewehre. Als 1894 der Krieg mit Japan ausbrach, verfügte China über weit mehr Kriegsschiffe als Japan.

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Jedoch bewahrte all dies die Qing-Dynastie nicht davor, zuerst von Frankreich und dann von Japan geschlagen zu werden. Die unmittelbare Ursache für die Niederlage im Jia -Wu-Seekrieg von 1894 war, daß ein korrupter Vertragspartner viele Artilleriegeschosse entgegen jeder Erwartung mit Sand gefüllt hatte. Auch wußte die halbmondförmig formierte chinesische Flotte noch bis zum Augenblick des Gefechts gar nicht, auf wessen Kommando sie überhaupt hören sollte. Dies verdeutlicht, daß ein korruptes System zur unausweichlichen Niederlage führt und sich zu seiner Rettung auch nicht auf die Technik verlassen kann.

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Yan Fu, der als erster von der Qing-Regierung zum Studium an die Marineakademie in England geschickt worden war, wurde nicht etwa Flottenkommandant, sondern ein ideologischer Aufklärer.

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Bei der eingehenden Betrachtung des Westens entdeckte Yan Fu, daß die großartigen Erfolge der europäischen Kultur darin begründet liegen, das Potential der einzelnen Individuen sich entfalten zu lassen, was zu einer Art Gesellschaftsvertrag geführt hat. Dieser Gesellschaftsvertrag bewirkt, daß der Wettbewerb und die anderen Funktionsweisen des Kapitalismus eine Reform der Gesellschaft vorantreiben können. In gleicher Weise kann durch die Ausnutzung der „Willenskraft“ des einzelnen einer Art „faustischen“ oder „prometheischen“ Veranlagung des Menschen - eine überlebensfähige Kultur geschaffen werden.

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Dennoch, während die Hundert-Tage-Reform scheiterte, an der Yan Fu teilgenommen hatte, war die Meiji-Reform in Japan erfolgreich. Als dieser großartige Reformer der chinesischen Neuzeit, geschlagen von der feudalistischen Macht, Schritt für Schritt sein reformerisches Denken aufgegeben hatte und zu guter Letzt sogar in den Schoß der Lehren von Konfuzius und Menzius zurückgefallen war, führte sein Kommilitone von der englischen Marineakademie, Ito Hirobumi, als japanischer Kanzler jenes Inselreich mit raschen Schritten in den Kreis der Weltmächte.

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Das tragische Schicksal Yan Fus und selbst vieler so großartiger Vordenker der Neuzeit wie Kang Youwei, Liang Qichao und Zhang Taiyan beweist anscheinend, daß sich selbst die vorbildlichsten Chinesen nach einer revolutionären und radikalen Phase letztendlich nicht davon losreißen konnten, in den Hafen des Konfuzianismus zurückzukehren.

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Bis in das Heute der achtziger Jahre hinein, inmitten der Diskussionen um die „Begeisterung für die chinesische Kultur“, wird der seit hundert Jahren nicht entscheidene Streit um die Überlegenheit der westlichen oder der chinesischen Kultur fortgeführt. Sei es das Wunschdenken der „totalen Verwestlichung“ oder der Glaube an die „dritte Blütezeit des Konfuzianismus“, alle treten sie mehr oder weniger noch auf der gleichen Stelle.

Kein Wunder, daß junge Wissenschaftler seufzen: Das große kulturelle Besitztum ist zu einer riesigen Last geworden, aus dem einst mächtigen kulturellen Überlegenheitsgefühl ist ein starker Schuldkomplex geworden. Dies, so muß gesagt werden, ist eine gewaltige psychische Barriere für den Prozeß der Modernisierung Chinas.

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Die Schwierigkeit der politischen Reform liegt wohl gerade darin, daß wir uns ständig darum sorgen, ob die Chinesen noch Chinesen bleiben. Als wüßten wir überhaupt nichts davon, daß sich während zwei- bis dreihundert Jahren, sei es in der Renaissance, während der Reformation oder zur Zeit der Aufklärung, die Westeuropäer zumindest um eines nie gekümmert haben: ob sie nach einer Reform ihre Identität als Italiener, Deutsche oder Franzosen verlieren könnten. Einzig in China ist dies das größte Tabu.

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Gerade das ist wahrscheinlich der kritische und schwache Punkt der gelben Zivilisation.

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Vor über 2.000 Jahren erzählte uns der Philosoph Zhuangzi eine Fabel:

Zur Zeit des Hochwassers im Herbst erkannte He Bo, der Gott des Huang He, daß er so mächtig war, daß er selbst aus der Mitte des Flusses nicht mehr zwischen Pferd oder Kuh am Ufer unterscheiden konnte. Er ließ sich nach Herzenslust flußabwärts treiben. Da erblickte er plötzlich das Meer und fühlte sich auf einmal ganz klein und verloren. Der Herrscher des Meeres, Bei Hai Ruo, erklärte ihm: Sprich mit dem Frosch im Brunnen nicht über das Meer, denn dieser weiß nur von seiner eigenen kleinen Welt und kann sich unmöglich die unendliche Weite des Meeres vorstellen. Und jetzt, mein lieber He Bo, hast du endlich deinen versandeten Flußlauf verlassen und siehst die Größe des Meeres. Da du jetzt um die Beschränktheit weißt, bist du in eine höhere Ebene eingetreten.

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Das ist eine Metapher. Sie handelt nicht etwa vom chinesischen Altertum, sondern sie scheint das Heute prophezeit zu haben.

Seit der alte Gott des Huang He wirklich das Antlitz des Meeres erblickt, dessen Größe und Kraft erkannt hat, ist nicht einmal ein Jahrhundert vergangen. Der lange Seufzer, den er im Angesicht des Meeres ausstieß, hallt, nach mehr als hundert Jahren, noch bis heute wider.

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Dieser Flecken lehmgelber Erde kann uns den Geist der Wissenschaft nicht lehren.

Dieser despotische gelbe Fluß kann uns nicht zu demokratischem Bewußtsein führen.

Diese gelbe Erde und dieser gelbe Fluß allein können schon jetzt eine täglich wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren, können keine neue Kultur gebären. Sie werden ihre einstige nährende Kraft und Energie nie wieder haben.

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Die konfuzianische Kultur verfügt wahrscheinlich über alle möglichen uralten und perfekten „Zauberwaffen“. Sie bildete aber über die Jahrtausende hinweg keine Unternehmungslust im Volk, keine Gesetzesordnung im Staat und auch keine die Kultur erneuernden Strukturen heraus. Im Gegenteil, während ihres Verfalls erschuf sie einen furchterregenden Selbstzerstörungsmechanismus, vernichtete ununterbrochen ihre eigene Essenz und erstickte eine Generation der hervorragenden Eliten dieses Volkes nach der anderen. Obschon sie auch tausend Jahre alte Kostbarkeiten bewahrt, heute müssen dennoch Wertvolles und Nutzloses gemeinsam vergehen.

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Die Geschichte beweist: Obwohl auch neue Erfolge der modernen Wissenschaft und Technik daraus resultieren können, kann eine Modernisierung, die unter der Regierungsform einer binnenländischen Kultur durchgeführt wird, dennoch unmöglich in radikaler Weise dem ganzen Volk eine starke kulturelle Vitalität geben.

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Nur wenn der azurblaue Meereswind doch noch, zu Regenwasser verwandelt, diese ausgetrocknete gelbe Erde wieder benetzt, erst dann bricht in den fröhlichen Tagen um das Frühlingsfest eine die Menschen verblüffende Tatkraft hervor. Nur so kann die riesige Lößhochebene erneute Lebenskraft schöpfen.

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Vielleicht sind es aber eben diese neuartigen, ganz gewöhnlich aussehenden und sich einfach artikulierenden Manager, die den Intellektuellen gerade in der Praxis überlegen sind. Mehr noch: Diese gesellschaftlichen Potentiale und Impulse, die sich im Kreise jener kleinen Ladenbesitzer, jener hastig dahineilenden Geschäftsleute und jener Bauern, die den Acker verlassen, um allerorten auf Arbeitssuche zu gehen, akkumulieren, das alles darf man nicht unterschätzen.