: Stellungskrieg oder Diskussion
Antwort auf die Thesen Ernst Tugendhats zum Thema „Schlupflöcher der Ethik“ ■ D E B A T T E
Gestern veröffentlichte Ernst Tugendhat an dieser Stelle einen Diskussionsbeitrag zu den „Euthanasie„-Thesen des Australiers Peter Singer und zur Konfrontation zwischen dem Philosophischen Seminar der FU Berlin und verschiedenen Initiativen von Behinderten. Tugendhats Text lädt zur schnellen, vorschnellen „Frontbegradigung“ ein. Man könnte etwa so dagegen argumentieren:
Da offeriert uns ein etablierter linksliberaler Philosoph in der 'taz‘ (typisch!) ein Rezept, mit dem sich „Euthanasie“ ins Gespräch bringen läßt. Es ist ebenso einfach wie billig: Man gebe sich tolerant, lese sodann „mit Kopfschütteln“ selbst unterschriebene Texte und beträufle das Ganze schließlich -reichlich und nach Belieben - mit „Verständnis für die Betroffenheit der Behinderten“. Sind diese Vorbereitungen absolviert, läßt sich um so leichter ans Eingemachte gehen: Es ist das Lebensrecht von Menschen, die seit ihrer Geburt oder durch spätere Krankheit schwer geschädigt sind. Entscheidend an dem Positionspapier Tugendhats, so könnte man weiter argumentieren, sind die folgenden, in die zweite Hälfte seines Beitrags eingestreuten Formulierungen:
-„In unserer Gesellschaft schlecht gelöst ist ...das Poblem der unheilbaren und schwerleidenden Menschen, und hier besonders der Säuglinge und anderer Personen, die ihren Willen nicht äußern können. Die Tötung scheint in vielen Fällen das einzige zu sein, was im Interesse des Kindes liegt...“
-Weil das alles so schlecht „gelöst“ ist, „scheint ein erheblicher Handlungsbedarf und d.h. Klärungs- und Diskussionsbedarf zu bestehen“. Schließlich handelt es sich um ein „praktisches Problem“. „Wir“ sollten deshalb nicht auf die Diskussion der „engsten und ethisch notwendigen Euthanasie-Fragen“ verzichten.
-Weil die „Philosophierenden“ darauf „nicht verzichten sollten“, kann die Diskussion bei den „Behinderten“ aus nachvollziehbaren Gründen „Bedrohungsgefühle hervorrufen“. „Daraus“, so erkennt Tugendhat messerscharf, „ergibt sich ein moralisches Dilemma.“ Er möchte es „mildern“ und bietet an, „die Behinderten wirklich miteinzubeziehen“. Verweigern die sich dem Angebot zur Miteinbeziehung, dann hat sich der Normalo Tugendhat seines Dilemmas eben auf diese Weise entledigt.
Entsetzlich, könnte man sagen, allein schon die Sprache: „Wir“, einmal sogar: „wir alle„- als Gegensatz zu behinderten Menschen formuliert -, ist das nicht der halbe Weg zur Volksgemeinschaft, moderner ausgedrückt: zur Solidargemeinschaft der Versicherten? „Handlungsbedarf“ bringt Tugendhat damit nicht in bestem Technokratendeutsch die Gesetzgebungs- und Vollzugsbedarfe (so der amtliche Plural) auf den Weg? Spricht er nicht ohne die geringste Konkretion von „Fällen“? Sagt er nicht, die Tatsache, daß diese „Fälle“ leben, müsse „dringlich“ diskutiert werden, unter Beschränkung auf die „engsten Euthanasie-Fragen“? Dieser Komparativ - grenzt er nicht nahtlos an Hitlers Ermächtigung zum Massenmord an mehr als 200.000 Patienten: „...bei kritischster Beurteilung ihres Gesundheitszustandes (kann) der Gnadentod gewährt werden.“ Ob Hitler damit wirklich die „engsten Euthanasie-Fragen“ meinte oder nur taktisch die Zustimmung derer erheischte, die zwei Jahrzehnte lang über „Grenzfälle“ des menschlichen Lebens diskutiert hatten, spielt keine Rolle. In jedem Fall hat genau diese Diskussion das Verbrechen begünstigt.
Gegen eine solche Argumentation stehen die Person, das Werk Ernst Tugendhats. Während es den Behinderteninitiativen unerträglich ist, daß nach Hadamar über „Euthanasie“ auch nur geredet wird, ist es Tugendhat, dem seine Eltern das Leben durch die Flucht vor den Deutschen retteten, unerträglich, daß es in Deutschland wieder Verbote des Diskutierens und Nachdenkens geben soll. Er hält das Thema für wichig und sagt, es muß diskutiert werden.
Mit aller Energie focht Tugendhat in den Jahren des „Nachrüstens“ gegen die Atomkriegsgefahr. Er verbreitete nicht einfach friedensbewegte Gesinnung, er wollte verstehen, warum man sich „in der Frage des gemeinsamen Überlebens nicht mehr versteht“, wollte „philosophisches Neuland betreten“ (Rotbuch 319). Unvergessen sind Tugendhats Polemiken gegen die Aushöhlung des Asylrechts: „Ein Staat ist nur dann legitim, wenn all sein Handeln auf das Wohl und die Menschenwürde der Menschen, die auf seinem Territorium leben ausgerichtet ist, und zwar aller gleichermaßen.“ (Kursbuch 86) Und schließlich sieht Tugendhat „die Hilflosigkeit der Philosophen“: „Wir alle sind heute mit moralischen Grundfragen konfrontiert, die wir nicht umhin können, so oder so zu beantworten, und auf die wir gleichwohl keine Antwort haben, die wir ausreichend begründen können.“ Tugendhat weist auf die Inkonsistenz moralischer Ansätze hin, die Rationalität und Autonomie zum Kritierium für Personalität erheben. Er fragt, wo bleiben da körperlich und geistig Behinderte, wo bleiben da Kinder, wo bleibt ungeborenes Leben, wo bleiben zukünftige Generationen, wenn wir - was faktisch dauernd geschieht die jüdisch-christliche Moral verlassen, „daß alles menschliche Leben, aber auch nur das menschliche Leben, heilig ist“? (Neue Gesellschaft, Okt. 1989) Es gibt gute Gründe, mit Ernst Tugendhat zu diskutieren. Es ist kein taktisches Manöver, wenn er sich die eigene Praxis und vielleicht bald auch einige Passagen in dem gestern hier veröffentlichten Text „mit Kopfschütteln“ ansieht. Im Kontext seines Denkens fordert er die Diskussion zu recht.
Inzwischen sind mehrere Seminare und Kongresse abgesagt, die sich unter irgendwelchen Medizin-ethischen Titeln mit den Thesen Singers auseinandersetzen oder sie einfach salonfähig machen wollten: Für die Initiatoren der Gegen- und Protestveranstaltungen also ein klarer Sieg nach Punkten. Aber welchen Sinn macht der Stellungskrieg auf die Dauer, ist er ein taugliches Mittel, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, daß es kein „lebensunwertes Leben“ gibt und daß niemand das Recht haben darf, darüber zu befinden? Ist es nicht lohnend mit Tugendhat zu versuchen, eine konsistente, nicht allein auf der bröckelnden jüdisch -christlichen Basis begründeten Moral zu entwickeln, sich also offensiv auf die Diskussion einzulassen?
Von Philosophen könnte man die prinzipielle Bereitschaft erwarten, die Diskussion abzubrechen, wenn sie andere Menschen bedroht. (Bei der Historikerdebatte hat Tugendhat diese Konsequenz gegenüber Ernst Nolte gezogen.) In jeder Diskussion, die heute über die von Tugendhat angesprochenen ethischen Grenz- und Zweifelsfragen geführt wird, müßte das umfangreiche Wissen über die deutschen „Euthanasie„ -Verbrechen zum Gegenstand der Reflexionen gemacht werden. Diese Verbrechen dürfen nicht, wie Peter Singer das exemplarisch macht, als „Nazi-Greuel“, mit denen man selbstverständlich nichts zu tun habe, weggeschoben werden: 1942 gab es die institutionell geregelte Tötung auf Verlangen, man sprach von „Lebensunterbrechung“, es gab einen Gesetzentwurf über „die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“, diejenigen, die behinderte Kinder töteten, begannen ihre mörderische Tätigkeit auf das intra-uterine Leben auszudehnen und vorzuverlegen. Und noch eines: Die Böcke machten sich zu Gärtnern - führende „Euthanasie„-Verbrecher dozierten besonders gern über „moderne medizinische Ethik“.
Wirklich entschlossenen Widerstand leisteten deutsche Katholiken. Sie taten das, weil sie gegen freiwillige und zwangsweise Sterilisierung und Abtreibung eintraten, weil sie dem Staat das Recht zum Krieg, zur Todesstrafe aber nicht zur Definition des Wertes des menschlichen Lebens zusprachen. Die Krüppelinitativen von heute stehen nicht in der Tradition dieses religiös motivierten Widerstandes, der dem nationalsozialischen Staat an diesem Punkt seiner Politik am meisten zu schaffen machte. Nirgends konnte das Mord-Programm leichter verwirklicht werden als im ehedem sozialdemokratischen und kommunistischen Sachsen. Die passive und aktive Zustimmung war weit über den Kreis aktiver Nazis hinaus beängstigend hoch.
Eine moralisch ernstzunehmende Diskussion wird, wenn sie die Leidens- und Widerstandserfahrung der Nazi-Zeit nicht nur als argumentative Versatzstücke im Stellungskrieg mißbrauchen will, auch das eigene Menschenbild zur Diskussion stellen müssen: Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem christlichen Menschenbild. Es gibt gute Gründe mit Ernst Tugendhat zu diskutieren, statt sich in neuen ideologischen Gräben einzuigeln.
Götz Aly
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