: Redlichkeit mit Pfiff
■ Erich Kästners „Literarische Publizistik“
Wie steht es denn mit dem Verfallsdatum tagesjournalistischer Prosa? Es kommt darauf an. 150 Jahre alte Feuilletons aus Paris lesen wir, wenn sie von Heine sind, immer noch gern. Nicht unbedingt, weil uns der Pianist Dreyschock oder Listzts Manager noch sehr viel bedeuten, sondern wegen der adrenalinartigen Ausschüttung von Esprit in diesen Texten und gleichsam in uns selbst. Auch von Tucholsky geht eine solch aufputschende Wirkung aus, ganz gleich, was er schreibt und ob man im Urteil jeweils übereinstimmt: Die Eleganz, mit der er seinen Gegenstand wie eine Beute umkreist und herumwirbelt, verspielt und ohne Eile, bevor er zubeißt, diese animalische Beschwingtheit seines Stils ist aufregend. Polgars Witz hat dagegen eine zartere Konstitution, man liest ihn ruhiger, aber auch mit diesem jauchzenden Gefühl in der Magengegend.
Alle drei waren zwar von Beruf Kritiker, aber nicht von Geburt. Als vor allem künstlerische Naturen wußten sie, daß es noch höhere Vergnügungen und tiefere Passionen gibt, als anderen die Hefte zu korrigieren. Daher ihr melancholisches Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Und daher dieser blühende Witz, der uns Heutigen, die wir ein Feuilleton teils entbehren können (sofern wir 'Zeit'-Leser sind) und teils entbehren müssen (soweit wir 'Spiegel'-Leser sind) immer noch so unendlich wohltut.
Der langen Vorrede kurzer Sinn: Von Erich Kästner sind kürzlich zwei Bände Literarische Publizistik erschienen, und die Frage ist: Können wir dem Feuilletonisten und Rezensenten Kästner vielleicht mehr abgewinnen als bespielsweise dem „Gebrauchslyriker“, wie er sich gern nannte. Oder dem Romanautor. An seine Kinderbücher erinnert man sich gern. Doch irgendwann sind wir halbwegs erwachsen geworden, Kästners Romanprosa leider nicht.
Für den Fabian und erst recht für die nach 1933 verfaßten Kolportage-Romane im Millionärs- und Komtessenmilieu ist man als Leser verloren, sobald man ab der Pubertät auch nur ein bißchen wirkliche Literatur kennengelernt hat. Da können die Schulbücher die Legende vom „Moralisten“ Kästner noch so treu kanonisiert haben: diesem flott-fatalistischen frohgemuten Pennäler-Zynismus, den Kästner und viele mit ihm offenbar für fetzige Satire hielten, spürt man den Leidensdruck der Epoche beim besten Willen nicht an. „Da pfeift einer im Sturm, bei Windstärke 11, ein Liedchen“, meint Tucholsky zur „Gebrauchslyrik“ Kästners.
Im Feuilleton scheinen Kästners Stärken - seine Pfiffigkeit und Vernünftigkeit - vorteilhafter als anderswo zur Geltung zu kommen. Diesen Eindruck vermittelten jedenfalls bisher die Gesammelten Schriften mit ihrer Auswahl von Artikeln und Glossen aus der Zeit nach 1945.
Die beiden nun erschienenen Bände enthalten neben Reisebildern und kleinen Feuilletons einige hundert Kunst-, Literatur-, Theater- und Filmkritiken, die Erich Kästner zwischen 1923 und 1933 für die liberale 'Neue Leipziger Zeitung‘ schrieb, zunächst als Redakteur, dann, nach seinem Rausschmiß 1927 und Umzug nach Berlin, als Feuilleton -Korrespondent aus der Hauptstadt.
Da Berlin - damals wie heute - bekanntlich gar nicht an der Spree, sondern „am laufenden Band“ liegt, wirkt so mancher Bericht aus den innerstädtischen Provinzen zeitlos aktuell. „Der Abend ist anspruchslos, aber hübsch“, schreibt Kästner anläßlich einer Lustspiel-Premiere. Kästner liebt die paradoxen Redefiguren: Tendenzstücke sind „kunstlos“, aber doch wichtig; Episches Theater ist „trotzdem ein großes spannendes Vergnüpgen“. Kästner liebt den Trotz: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Viele mißglückte Aufführungen von teils noch mißglückteren Stücken sind zu beklagen. „Im Kleinen Theater, Unter den Linden, wird eine kleine törichte Komödie gespielt, daß man glaubt, die Innung der Straßenhändler von Kyritz an der Knatter probe fürs Stiftungsfest.“ ... „Im Deutschen Theater brachte Hilpert Shakespeares Lustige Weiber von Windsor als Revue-Inszenierung heraus. Als Biedermeierposse mit Gesang... Ein zum Sterben langweiliger Abend.“ „Im Schillertheater...“ usw. - circa 30 Bühnen hatte Berlin damals. Und trotzdem bemüht sich Kästner stets redlich um das „Positive“, das man bei ihm einklagte, um das Restchen verbleibender Substanz - sei es von Piscators Bühnenmission oder Sternheims Hose.
Kästner, das ist Redlichkeit mit Pfiff. Er ist Klassenprimus, und trotzdem intelligent. An Lessing geschult und mit guten Argumenten, referiert er pflichteifrigst. Über O'Neills bizarres Experimentierstück Seltsames Zwischenspiel schreibt er anläßlich der Berliner Uraufführung 1929: „Man sah und hörte einen psychologischen Roman. Es war, als seien Romanfiguren auf die Bühne geklettert und sprächen nun dort oben und dächten so laut wie möglich ... seelische Zeitlupenaufnahmen! Kunst ist das nicht mehr, sondern psychologische Reportage... Ein Experiment. Ein interessantes Experiment. Es mußte mißlingen. Es mißlang.“
Kästner klopft und horcht das Stück ab und diagnostiziert. Dabei schweift er nicht ab, der Gegenstand selbst füllt den ganzen Horizont seiner Betrachtung.
Man vergleiche dies etwa mit Tucholskys Rezension derselben Aufführung für die 'Weltbühne‘: „Es waren alle da, die da glauben, wenn sie da seien, seien alle da - ...und dann fing es an und entpuppte sich als ein seltsames Zwischending: außen Psychoanalyse und innen Lavendel... 'Ich hasse meine Mutter‘ ist so ziemlich der Höhepunkt dessen, was jene Gesellschaftsmenschen auszudenken wagen. Eine sauber shampoonierte Psychoanalyse. Und das uns, in Europa? Nächstens wollen wir deutschen Kaugummi nach den Vereinigten Staaten ausführen...“
Die kritische Demontage des Stücks, Kästners Kür, ist Tucholsky allenfalls lästiges Pflichtprogramm. Da räumt einer, dessen Gattung wenige natürliche Feinde hat, ein Tierchen, das nicht auf seinem Speiseplan steht, etwas unwillig mit der Tatze aus seinem Blickfeld.
Der Hauptunterschied zwischen beiden ist wohl vor allem der: Kästner fühlt sich zwar oft unwohl, die Welt erscheint ihm oft „schon seltsam“, aber er hat sein kleines Nest darin, von dem er sich nie sehr weit entfernt. Daher ist sein Witz, sofern es ihm gelingt, sich dumm statt schlau zu stellen, defensiver Art. Tucholsky ist ein aus dem Nest Gefallener, ein „Landsknecht des Geistes“, sein Witz Reflex, Angriffswaffe gegen eine bedrohliche, verspießerte Kaffernwelt, in der es keinen heimatlichen Besitzstand für ihn zu verteidigen gibt, außer seiner Bewegungsfreiheit. Daher die Wildform dieses Esprit, der zu einem günstigeren Preis wohl nicht zu haben ist.
Daß dies so ist, daß diese unaufhebbare Fremdheit ein inneres Reizklima schafft, in dem ernstlicher Witz erst gedeiht, empfindet man stark auch bei den Feuilletons von Joseph Roth. Seine Ironie ist so zart und transparent, daß die melancholische Vorzeichnung stets durchschimmert.
Wenn Kästner den „Kurbelbetrieb“ Berlins - Revuen, Tanzmarathon oder Intendantenkrise - gleichsam aus heimischer Warte gefällig glossiert, schildert Roth das Vertraute, als wär's Calcutta. Und dieser animierend fremde Blick konvergiert aufs fruchtbarste mit der Fremdheit zwischen den Dingen selbst. Kästner kontert, Roth kontrastiert: die aufgekratzte Geschäftigkeit Berlins mit dem stillen herbstlichen Tiergarten, wo die „Alleen trauerbunt durch die Welt“ wandeln; das geschraubte Pathos eines Spielfilms mit der echten Tragik in einem Wochenschau -Spot. Die atmosphärische Brechung, sprich: Kontrastierung Grundprinzip des Komischen - ist also zugleich die geistige Form der Melancholie. „Besiegte Menschen“, heißt es bei Saul Bellow einmal, „besiegte Menschen neigen zum Witz.“
Gabriele Killert
Erich Kästner: Literarische Publizistik. 2 Bände. 419 und 402 Seiten, Atrium Verlag, 58 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen