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Es geht auch ohne Reich-Ranicki

Die Gruppe 47 holte ihr einst für 1968 geplantes Treffen in Prag nach  ■ N A C H T R A G

Es war wie in dem Film Die Feuerzangenbowle, wo die Rollen der Schüler von Erwachsenen gespielt werden: obwohl jeder von uns sein vom Klassenlehrer unterschriebenes Zeugnis längst in der Tasche hat, mußten wir noch einmal die Schulbank drücken und vor dem Richterstuhl der Gruppe 47 die Reifeprüfung ablegen im Leistungskurs Gegenwartsliteratur. Wir - das waren zwei Dutzend deutschsprachige Autoren, angeführt von Günter Grass, die Hans Werner Richter zu einem Treffen mit tschechischen Kollegen auf Schloß Dobzis bei Prag eingeladen hatte: zur Nachholung der 1968 am gleichen Ort geplanten Tagung der Gruppe 47, die damals durch höhere Gewalt in Form von Panzern verhindert worden war. Obwohl seit dem letzten Gruppentreffen beinah ein Vierteljahrhundert vergangen ist, gehörten Friedrich Christian Delius und ich noch immer zu den jüngeren Jahrgängen - abgesehen von dem Schweizer Peter Aebli und dem Anglo-Österreicher Peter Waterhouse; und Peter Schneider, der in den sechziger Jahren der Gruppe ferngeblieben war, kam auch diesmal nicht zum Zuge, obwohl er mit einem Roman im Gepäck angereist war - aus Zeitmangel, wie es hieß.

Die Zeit ist nicht spurlos an der Gruppe 47 vorübergegangen: das einst von den Luxusyachten der Verleger und den Schnellbooten der Presse umschwärmte Flaggschiff der jungen deutschen Literatur hat sich in einen Museumsdampfer verwandelt, der mit Vaclav Havel als Lotsen an Bord den schützenden Hafen anlief. Aber noch hat der Kapitän das Schiff nicht verlassen. Hans Werner Richter, der im Rollstuhl auf der Kommandobrücke vorfuhr, strahlte eine selbstverständliche Autorität und souveräne Ruhe aus, die der Konzentration auf die vorgetragenen Texte förderlich war. Das Ritual des Lesens und Diskutierens hatte nichts von seiner Spannung verloren; es funktionierte, auch ohne Reich -Ranicki, besser als in Klagenfurt: Autoren sind vielleicht doch die besseren Kritiker. Auf Festreden und Selbstbeweihräucherung wurde ebenso verzichtet wie auf ideologische Sprechblasen und politisches Blabla. Als Walter Höllerer in einem verspätet ausgetragenen Vater-Sohn -Konflikt gegen das von Richter personifizierte Reglement aufmuckte, wurde ihm vom Gruppenvater eine barsche Absage erteilt: „Walter, wenn es dir bei uns nicht paßt, mußt du dir eine andere Gruppe suchen!“

Sensationelle Entdeckungen sind von dieser Tagung nicht zu vermelden. Die meisten deutschsprachigen Beiträge waren gehobenes Mittelmaß: es gab gute Gedichte von Jürgen Becker, Robert Schindel und Helga Novak und mehr oder weniger gelungene Prosastücke von Gerhard Köpf, Libuse Monikova, Hans Joachim Schädlich, Günter Grass, Christoph Hein und Friedrich Christian Delius, von denen keines, einschließlich meinem eigenen Text, die anwesenden Kollegen und Fritz J. Raddatz als Profikritiker restlos überzeugte - abgesehen von zwei immer kürzer werdenden Geschichten des Schweizers Peter Bichsel, die Schädlich zu Recht als „kostbar“ bezeichnete. Der Kafka-Verschnitt von Peter Aebli und die Handke-Adaption von Peter Waterhouse dagegen stießen auf gereizte Ablehnung, während die Lyrik-Performance der Türkin Zehra Cirak, die zusammen mit ihrem Berliner Mann auftrat, Ratlosigkeit zurückließ.

Aufschlußreicher waren die Lesungen der tschechischen Schriftsteller (slowakische Autoren waren auf Schloß Dobzis nicht anwesend), bei denen Jiri Grusa als Übersetzer und Souffleur einsprang. Edda Kriseowa las die Geschichte einer unwürdigen Greisin, die aus dem Altersheim und später aus der geschlossenen Anstalt ausbüchst, um vor dem Kasernentor auf den Strich zu gehen, während Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter sich darüber den Kopf zerbrechen, wie diese Abweichung von der realsozialistischen Norm zu kurieren ist. Der Lyriker Petr Kabes rezitierte ein langes Gedicht über das Erzgebirge, in dem das von Günter Grass wortreich beklagte Waldsterben poetisch auf den Begriff gebracht wurde. Milan Uhde dramatisierte Szenen aus der Ehe eines gewissen Dr. Karl Marx, der seine Frau Jenny mit seiner Haushälterin betrügt und seinen ostfälischen Freund bittet, sein uneheliches Kind an Vaters statt anzunehmen; und Ludvik Vaculik, der Verfasser des Manifests der Charta 77, schilderte ein Liebespaar, das mit der Novelle Katz und Maus ins Bett geht und erst wieder aufsteht, nachdem sie das Buch ausgelesen und alle von Günter Grass erwähnten Perversionen ausprobiert haben. Hinterher beschließen sie, gemeinsam Selbstmord zu begehen, denn „das Kino war geschlossen, und es gab kein anderes Buch von Günter Grass in dieser Stadt“. Spätestens hier wird klar, was Leser von Milan Kundera schon lange wissen: Politik reimt sich in Böhmen und Mähren auf Sex, und zum unabhängigen Denken gehört nicht nur ein Kopf, sondern auch ein Bauch mit zwei Beinen und allem, was dazwischen liegt.

Das eigentliche Politikum der Tagung war ihr Ort: Schloß Dobzis bei Prag, das Vaclav Havel und seine Freunde nie wieder zu betreten geschworen hatten, weil hier bis vor kurzem die stalinistischen Literaturbonzen ihr schäbiges Luxusleben zelebrierten. Das Treffen der Gruppe 47 an diesem symbolträchtigen Ort war mehr als bloße Nostalgie oder ein billiger, wenn auch verspäteter Triumph: was die tschechischen Autoren an ihren deutschsprachigen Kollegen interessiert, ist die Tatsache, daß hier ein loser Zusammenschluß von Schriftstellern ohne Satzung oder Statut, ohne öffentliche Subventionen und ohne den Segen von Partei und Staat, ja sogar ohne Ideologie auskam - ein Vorbild, das den durch vierzig Jahre Parteidiktatur gebeutelten Autoren der CSFR durchaus nachahmenswert erscheint.

Bekanntlich gehörte die linksliberale Öffentlichkeit der BRD, einschließlich ihrer literarischen Repräsentanten, nicht zu den zuverlässigsten Verbündeten der Charta 77 in Prag. Die peinliche Bestätigung hierfür lieferte der eigens aus Bonn angereiste Holger Börner, als er Vaclav Havel den Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für das beste politische Buch überreichte. Nachdem er gewunden erklärt hatte, warum Havels Bedeutung im Herbst 1987, als das jetzt preisgekrönte Buch erstmals erschien, noch nicht zu erkennen gewesen sei, lobte er den inzwischen zum Staatspräsidenten avancierten Autor für dessen Verdienste um die „internationale Solidarität“ - ein Wort, das in tschechischen Ohren nicht gut klingt, seit es zur Rechtfertigung des sowjetischen Einmarschs in Prag herhalten mußte. Bevor er weiteren Dissidenten Preise verleiht, sollte Börner die Breschnew -Doktrin von seiner Dachlatte streichen.

Hans Christian Buch

Der Autor lebt als freier Schriftsteller in West-Berlin

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