„Wasserdampfwolke“ war hochgiftiges Chlorgas

Die mysteriöse Wolke über Skandinavien könnte aus der UdSSR stammen / Schwere Explosion in einer Nickelschmelze war Ursache / Heimische Bevölkerung von sowjetischen Behörden gewarnt, nicht jedoch das Ausland / Nickelproduktion verseucht das gesamte Umland  ■  Von Reinhard Wolff

Kirkenes (taz) - Die mysteriöse Wolke, die am Mittwoch nachmitag für mehrere Stunden Bevölkerung und Behörden in den nördlichen Teilen Finnlands und Norwegens in Atem hielt und auch im übrigen Europa für Aufregung sorgte, war keinesfalls „harmloser Wasserdampf“ und ein „natürliches Phänomen“. Mit diesen behördlichen Erklärungen war die Bevölkerung beruhigt worden, nachdem finnische Beobachtungsflugzeuge keine radioaktive Strahlung feststellen konnten.

Strahlend war die Wolke tatsächlich nicht. Dafür aber möglicherweise hochgiftig. Dies hat der nordnorwegische Lokalradiosender „Radio Pasvik“ in Kirkenes am Freitag herausgefunden: Der Chemiker Valerij Sikikalow vom „Institut für Umweltprobleme“ im sowjetischen Murmansk teilte dem Sender mit, daß sich in der letzten Woche im sowjetischen Montesegorsk, südöstlich von Murmansk eine schwere Explosion in einem Nickelwerk ereignet hat. Hierbei seien „große Mengen“ (Sikikalow) Chlorgas freigesetzt worden.

Die Bevölkerung von Montesegorsk und in verschiedenen umliegenden Orten sei sofort von den Behörden aufgefordert worden, in den Häusern zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten. Nach einigen Stunden habe es Entwarnung gegeben, da die Chlorgaswolke auf weithin unbewohntes Gebiet über die Kola-Halbinsel und anschließend auf das Barentsmeer hinaus abgetrieben sei. Über mögliche Opfer der Explosion konnte Sikikalow dem Sender keine Auskunft geben.

Professor Anton Eliasson vom Meteorologischen Institut in Oslo hält auf Befragen den Zusammenhang zwischen dem Chlorgasaustritt und der beobachteten, fast 100 Kilometer langen „seltsamen Wolke“ für „durchaus vorstellbar“. In den letzten zwölf Tagen hätten über dem Barentsmeer Wind- und Wetterverhältnisse geherrscht, die den Weg der Wolke vom Explosionsort hinaus auf das Meer und dann wieder in südlicher Richtung zurück auf das Festland erklären könnten. Eine direkte Gefährdung durch die Wolke hält Eliasson aber aufgrund der Zeit, die seit der Freisetzung des Chlorgases vergangen ist, „für nicht sehr wahrscheinlich“. Nicht vertretbar sei aber die völlig fehlende Information seitens der sowjetischen Behörden. Diese hätten damit „zumindest gegen zwei internationale Übereinkommen verstoßen“.

Kare Tannvik, Sprecher einer Umweltgruppe in Kirkenes, hält den Vorgang für einen „unfaßbaren Skandal“: „Aufgrund des Drecks von den Nickelschmelzen hatten wir im letzten Winter hier mehrfach eine Luft, die in Oslo Smogarlarmstufe eins ausgelöst hätte. Jetzt schicken sie uns eine Giftwolke herüber und warnen uns nach bester Tschernobyl-Manier nicht einmal.“ Montesegorsk liege schließlich nur 150 Kilometer von der norwegischen und finnischen Ostgrenze entfernt. Aus Gesprächen in der Sowjetunion wisse man, daß es in der Vergangenheit wiederholt schwere Unglücke in den veralteten Nickelschmelzwerken gegeben habe. „Die Behörden haben uns aber schon letztes Jahr versichert, daß wir in Zukunft bei jeder auch für uns hier irgendwie gefährlichen Situation umgehend benachrichtigt werden.“ Tannvik weist auch darauf hin, daß Fischer seit Anfang der Woche wiederholt große Mengen toter Fische im Barentsmeer gemeldet hätten: „Ist da vielleicht etwas aus der Wolke abgeregnet?“

Die Nickel-Schmelzen auf der Kola-Halbinsel stellen mit die größten einzelnen Dreckschleudern Europas dar. Die Industrie auf Kola bringt es auf über 800.000 Tonnen Schwefeldioxid im Jahr. Kilometerweit breiten sich ringförmig um die Werke fast vegetationslose Wüsten aus. Auch auf finnischer und norwegischer Seite werden die Auswirkungen - Waldsterben und umfassende Versäuerung - immer deutlicher. Aktuelle Analysen Anfang des Monats hatten ph-Werte von bis zu 4,63 ergeben. Schon bei einem Wert ab 5,5 können verschiedene Pflanzen und Tierarten nicht mehr überleben.