: Wahl im Schatten der Vergangenheit
■ In der Tschechoslowakei finden die ersten freien Wahlen seit 1946 statt / Von Christian Semler
Nach der „sanften Revolution“ im November des letzten Jahres wählten gestern und heute 11,25 Millionen Tschechoslowaken ein neues Parlament, dessen Legislaturperiode auf zwei Jahre begrenzt ist. Die 300 Abgeordneten der aus zwei Kammern bestehenden Bundesversammlung sollen in dieser Zeit eine neue Verfassung ausarbeiten.
„Eigentlich ist das eine Parodie eines Wahlkampfs“, sinniert Kollege Petracek von der Zeitschrift 'Respekt‘. Offensichtlich war er ursprünglich der Meinung, bei Wahlen gehe es um klar erkennbare Alternativen. Da ist Kollege Lukes, Wahlmanager des Bürgerforums für Prag, schon fortgeschrittener. Schließich hat er bei amerikanischen und europäischen Wahlwerbern einen crash-course absolviert. Der Ironiker liest mir die zentralen Aussagen der Programme aller Parteien einschließlich der kommunistischen vor. Alles identisch. Das Forum hat sich, statt eigene Gedankenarbeit zu leisten, von den ungarischen Freien Demokraten einen schmissigen Slogan ausgeborgt: „Wir wissen! Wir wollen! Wir werden es schaffen!“ Vom ursprünglichen Witz der Parolenmacher ist nichts mehr geblieben, jede Menge Kinderchen müssen als Sympathieträger herhalten. Herzig bei den Christdemokraten, kokett beim Bürgerforum. Ansonsten wird Personality-Werbung betrieben, wobei das Forum die Nase vorn hat - einfach weil es über die bekannteren Kandidaten verfügt.
Aufklärung findet nicht im Wahlkampf statt, sondern mitten in der Innenstadt in einer Freilichtausstellung, die keinerlei historische Vorbilder hat. In der Fußgängerzone von „Na Prikopie“, dem „Graben“, wird auf riesigen Plakatsäulen die Zeit von 1918 bis 1968 gezeigt. Über den Köpfen wehen, je nach der Epoche, rote oder blau-weiß-rote Gazefahnen. Die historische Zeile mündet am Platz der Republik in eine große Ausstellung ein, die der Zeit der „Normalisierung“ bis zum November letzten Jahres gewidmet ist. Die Auswahl der Dokumente ist fair, wenngleich bittere Episoden wie die Kollaboration mit den Naziokkupanten oder die Vertreibung der Böhmendeutschen nach dem Krieg etwas geschönt sind.
Hunderte von Besuchern stehen Schlange vor dem Museum, Dutzende umlagern die Säulen, wo die Schauprozesse der fünfziger Jahre oder der Prager Frühling behandelt werden. In der Mitte der Geschichtsstraße ist eine Tribüne angedeutet, wo im Kunterbunt die Pappbüsten der Gewaltigen zu sehen sind. Ceausescu und Honecker haben bereits den Kopf verloren. Vor dieser Tribüne intoniert eine im Blau des kommunistischen Jugendverbandes gekleidete Truppe zum unsäglichen Vergnügen des Publikums die Kampflieder der Nachkriegszeit. Josef Stalin wird zur Witzfigur Peppi oder zum tönernen Golem-Kinderschreck in dem Kurzfilm Das Ende des Stalinismus in Böhmen. Der Schrecken über die Geschichte, der zum Erschrecken über die eigene Biographie werden könnte, wird im Lachen erstickt. Allzuleicht nimmt man Abschied von einer Epoche, man verlacht eine Absurdität, vor der man vor sechs Monaten noch zitterte. Und dennoch - welch ein Unterschied zur jüngsten deutschen Vergangenheitsbewältigung, zum Selbstmitleid der linken Intellektuellen, zur gegenaufklärerischen Rede von der Dummheit des Volkes.
Man lacht in Prag über die einstigen Unterdrücker, aber man leidet auch an ihren Schatten. Ein schrecklicher Abgrenzungsmechanismus hat den Wahlkampf bestimmt. Wer wie der unerschrockene Ladislaus Lis in seiner Jugend den stalinistischen Terror guthieß, bekommt das jetzt Zeile für Zeile vorgerechnet, und wenn er auch zwanzig Jahre lang für die Menschenrechte gestritten hat. Andererseits grassiert eine Verdachtspsychologie, die hinter jedem Opportunisten der „Normalisierungszeit“ nach '68 einen Zuträger oder Agenten der Staatssicherheit wittert. Die Parteien haben sich mit wenigen Ausnahmen der „Lustrierung“, der Überprüfung ihrer Kandidaten unterzogen, und alle Welt lauert, wer als nächster „aus Gesundheitsgründen“ auf die weitere politische Karriere verzichtet. Jüngstes Beispiel: Am Mittwoch ließ sich einer Meldung der Tageszeitung 'Vecerni Praha‘ zufolge die stellvertretende Außenministerin Vera Bartoskova von der Kandidatenliste des christdemokratischen Wahlbündnisses streichen, nachdem bekanntgeworden war, daß sie früher mit der Geheimpolizei StB zusammengearbeitet hatte.
Die Abgrenzungswut hat rasch zu fatalen Polarisierungen geführt. Die Gruppe der Christlichen Demokraten Böhmens etwa, die dem konziliaren Prozeß nahestand und sich einem franziskanischen Christentum verpflichtet fühlte, ist an die Seite der reaktionären Katholischen Volkspartei, einer bis zum Schluß gefügigen Blockflöte, gedrängt worden. Ein hohler, traditionalistischer Katholizismus triumphiert. Zu einem Zeitpunkt, wo die Katholiken in Böhmen erstmals den Ruch der „Habsburger-Partei“ abgestreift haben, wo sie vollkommen akzeptiert sind, haben sie in der Gesellschaft nichts zu sagen.
Aber auch das Bürgerforum und mehr noch die aus seinen Reihen stammenden Minister haben durch Schweigen und Untätigkeit eine große Chance versäumt. Sie unterließen es, eine möglichst kontroverse und faktenreiche Debatte über die „Reise in die Marktwirtschaft“ zu führen. Wie überall in Osteuropa standen sich gradualistische „go slow„- und brachiale „speed up„-Modelle gegenüber, die aber niemals samt ihren gesellschaftlichen Konsequenzen durchgerechnet und als Alternativen der Bevölkerung plausibel gemacht worden wären. Jetzt beschweren sich die Wahlkämpfer des Forums darüber, daß auf den Wahlveranstaltungen zwar viel von Opfern die Rede ist, aber immer die anderen gemeint sind. Bei der Bevölkerung herrscht eine Mischung aus Angst und naiven Zukunftserwartungen. Aber das Schwanken der Regierung und die Unsicherheit, die auch den jetzigen, mehr dem Neoliberalismus verpflichteten Stufenplan umgibt, ist selbst eine Quelle der Zukunftsangst.
Diese Angst erzeugt Ungeheuer. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo die von Havel und Dienstbier inspirierte Außenpolitik gut durchdachte supranationale Lösungen vorschlägt und die Prinzipien eines friedlichen und vernünftigen Ausgleichs propagiert, wird die CSFR von nationalistischen Emotionen, von Intoleranz und Fremdenhaß heimgesucht. Dem Bürgerforum und den anderen demokratischen Parteien steht die größte Bewährungsprobe noch bevor - sie müssen Mut zum Nonkonformismus aufbringen und gegen den Strom schwimmen. Der jetzt wie ein Heiliger verehrte Präsident der ersten Republik (1918-1939), T.G. Masaryk, hat Zeit seines Lebens diesen Mut bewiesen, sei es, daß er Juden in einem Ritualmord-Prozeß verteidigte, sei es, daß er von den tschechischen Nationalisten in den politischen Auseinandersetzungen mit den Böhmendeutschen verwendete historische Urkunden als Fälschungen entlarvte. In beiden Fällen hatte er die Mehrheit gegen sich - genau wie diejenigen, die heute für die Roma und die vietnamesischen Kontraktarbeiter eintreten.
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