Italien herzt den „Scheißkerl aus dem Süden“

Pessimismus trotz des 1:0-Siegs gegen Österreich und Katerstimmung bei den Nord-Rassisten wegen Schillacis Treffer  ■  Aus Rom Werner Raith

„Auch das noch, auch das noch“, stöhnt zehn Minuten vor Schluß der Kollege vom 'Resto del Carlino‘, „das kehrt denen doch den Magen um.“ „Das“, damit meint er das Tor, das nun, fast im letzten Moment, zum Sieg der „Azzurri“ gegen die Österreicher reichen soll (und wird), und das ausgerechnet jener Bursche geschossen hat, den die Florentiner vor dem Trainingscamp der Nationalmannschaft und die Lombarden bei Spielen seiner Turiner Juventus Squadra in Mailand als „Scheißkerl aus dem Süden“ beschimpft und bespuckt oder gar in die Gaskammer der Nazis gewünscht hatten: Salvatore, genannt Toto Schillaci.

Der erst in der 75.Minute eingewechselte Senkrechtstarter er spielte noch vergangene Saison beim Zweitligisten Messina - aus Sizilien gilt nun als Nationalheros, hat er doch die Italiener aus einem grauenhaften Trefferdesaster herausgeholt: Mehr als eine Stunde hatten Donadoni, De Napoli, Vialli und besonders der gehätschelten Carnevale ein ums andere Mal aus „einer Entfernung, wo auch der Kurzsichtige keine Brille brauchen dürfte“ ('Il manifesto‘) nur beträchtliche Abweichungen vom siebenmal zweieinhalb Meter weit offenen Kasten zustande gebracht.

Die schlimmsten Befürchtungen aus der Vorbereitungsphase schienen sich zu bestätigen - auch da waren die Italokicker meist mit berauschenden Ballwirbeln bis in den gegnerischen Strafraum vorgedrungen, um dann voll daneben zu hauen. Der Alptraum der Niederlagen Argentiniens und der UdSSR gegen deren erste Gegner Kamerun beziehungsweise Rumänien hing trotz der ab und zu einsetztenden Aleee-Ooo-Ooos über dem Olympiastadion.

Und da hieb nun, nach unendlich vielen Fehlversuchen und nach einem eindeutig zu Unrecht verweigerten Elfmeter Schillaci mit seinem insularen Dickschädel dem österreichischen Tormann ein solches Tor ins Netz, daß selbst die Reporter erstmal Luft holten und es gar nicht glauben wollten. Die RAI-Kollegen vom Fernsehen, sonst stets einander ins Wort babbelnd, verstummten verschreckt und starrten sekundenlang auf den Pfeifenmann, in sicherer Erwartung irgendeines Menetekels, das diese Sonderleistung anullieren würde. Doch da war nichts - es war ein Tor, auch wenn's keiner glauben wollte. Und langsam tauchte auch der Winzling wieder auf, den seine auch nicht sehr großen, ihn aber weit überragenden Kollegen unter sich begraben hatten.

Die blieben dann zwar aus, es reichte aber, um den italienischen Rundfunkmann nebenan das feierlich timbrierte Sprüchlein: „Es war ein Sieg nach Maß“ zu erlauben. Dann prüfte er genau nach, ob das Mikro wirklich angestellt war und öffnete noch einmal den Schnabel: „Eigentlich hätte ich 'mäßig‘ sagen sollen, nicht 'nach Maß‘.“ Er hatte sicher recht, und so ganz siegesfroh wurden die Italiener denn auch nicht. Jedenfalls war von den frühmorgens in einer Hunderttausenderauflage aus Neapel herangeschafften traditionellen Plakaten nach Todesanzeigenart mit dem Text: „Telefax nach Rom: Das erste Opfer der Weltmeisterschaft ist Österreich“ kaum mehr eines zu sehen. Selbst der übliche Autokorso mit Fahnenschwenken und Hupkonzerten hielt sich in Grenzen.

Erstens „müßte doch um alles in der Welt eine Mannschaft bei zehn klaren Torchancen gegen eine insgesamt zwei Klassen schlechtere Elf mindestens zwei oder drei verwandeln, und das hat sie nicht“, analysiert 'l'Unita‘, und Italiens auflagenstärkste Sportzeitung 'Gazzetta dello sport‘ warnt, daß man, zweitens, „leider weiß, wie oft unsere Burschen nach einem am Ende doch noch herausgeholten Sieg beim nächsten Spiel allzu sorglos sind.“

Die meisten Zeitungen setzten in ihren Schlagzeilen weniger auf die italienische Mannschaft als auf Schillaci ('Gazzetta‘: „Toto, wir umarmen dich“, 'La Stampa‘: „Schillaci erleuchtet ein schönes Italien“) oder auf den Showrahmen ('L'Unita‘: „Italien als Spektakel“).

So hoffen die italienischen Fans längst auf die zweite oder dritte Partie (USA und CSFR). Spielstrategen ersehnen sich, daß sich die Hintermannschaft nicht, wie von den sonst überwiegend einfältig argierenden Österreichern, allzu oft mit ein und demselben Trick über den rechten Flügel übertölpeln läßt, und daß die Stürmer endlich das Tor anvisieren statt dem Luftraum über dem Stadion. Die Mailänder hingegen beten zu allen Heiligen, daß einer der ihren zum Zuge kommen möge und so der kürzlich errungene Europacup nachträglich nicht zum reinen Gastarbeiterverdienst der Gullits und Van Bastens verkommt.

Und die Rassisten der süd-feindlichen Lega Lombarda (die bei den Regional- und Gemeinderatswahlen im Mai zwanzig Prozent der Stimmen bekam) wünschen, daß möglichst schnell möglichst viel Gras über den Erfolg des Erz-Sizilianers Schillaci wächst, dem die nationale Tifoserie die Rettung vor einer Blamage nach Kamerun- oder Rumänien-Art verdankt.

ITALIEN: Zenga - Baresi - Bergomi, Ferri - Donadoni, Ancelotti (46. De Agostini), De Napoli, Giannini, Maldini Vialli, Carnevale (75. Schillaci).

ÖSTERREICH: Lindenberger - Aigner - Russ, Pezl - Artner (61. Zsak), Herzog, Schöttel, Streiter, Linzmaier (77. Hörtnagel) - Ogris, Polster.

Zuschauer: 72.303

Tor: Schillaci (78. Minute)