: Der richtige Mann zur richtigen Zeit
■ Warum die SPD sich mit ihrem Kandidaten so schwer tut
Wieder einmal ging es um eine endgültige Entscheidung. Kommt Lafontaine (nach Bonn) oder kommt er nicht, bleibt Oskar (Kanzlerkandidat der SPD), oder bleibt er nicht. Wie immer der saarländische Ministerpräsident sich letztlich entscheidet, das Stück welches die SPD zur Zeit aufführt, ist von so grundsätzlicher Bedeutung, daß Vogels Spruch „vom Sturm im Wasserglas“ den Euphemismen des Jahres nahekommt. Für die Mehrzahl der bundesdeutschen Medien handelt es sich bei dem Hin und Her um die Kandidatur, um eine Inszenierung des Kandidaten, die angeblich zweierlei Ziele verfolgt: Lafontaine wolle sich zum ersten - zumindest als Person - so weit von der Kohlschen Linie absetzen, daß er einen glaubwürdigen Wahlkampf gegen den amtierenden Kanzler führen kann. Zum zweiten gehe es ihm nicht darum, den Staatsvertrag zu verhindern, sondern Bundestagswahlen im Dezember durchzusetzen, statt Kohl freie Fahrt für gesamtdeutsche Wahlen zu überlassen.
Unter diesen Gesichtspunkten hätte die Frage nach dem Verhalten der Partei bei der Abstimmung über den Staatsvertrag tatsächlich eher taktische Bedeutung. Was zu dieser Interpretation nicht paßt, ist das grundsätzliche Aufbegehren großer Teile der SPD-Bundestagsfraktion und prominenter Parteimitglieder. Den Konflikt auf die Frage des Lafontaineschen Führungsstils zu reduzieren, ist dabei eine unzulässige Bagatellisierung: Es geht nicht darum, daß der Kandidat die Fraktion vorführen will - noch viel weniger geht es darum, daß Lafontaine Teile seiner Partei erpreßt. Der eigentliche Konflikt liegt tiefer, wurde erstmals deutlich, als Brandt und Lafontaine ihre Parteitagsreden im September in Berlin hielten. Konnte man anfangs noch davon ausgehen, daß hier der Alte und der Junge nach dem Motto „getrennt marschieren, vereint zuschlagen“ zwei Seiten der Sozialdemokratie aufzogen, die jeweils einen Teil ihres Klientels bedienen sollten, so ist doch mittlerweile klar, daß das Auseinanderdriften Ende letzten Jahres alles andere als ein taktischer Zug war. Brandt, der ein Comeback feiert, war plötzlich wieder eins mit einer Traditionslinie seiner Partei, die bis in die Anfangsjahre des Jahrhunderts zurückreicht. Angesichts der möglichen deutschen Vereinigung ist die SPD Brandts wieder so patriotisch wie es die SPD der Kriegskredite 1914, wie es die SPD Eberts war und die SPD Schumachers wieder wurde. Und wie es Brandt selbst in seiner Anfangszeit als Regierender Bürgermeister von Berlin war.
Dabei ist dieser Patriotismus keineswegs nur eine Reaktion auf die Angst, das alte Klischee vom „vaterlandslosen Gesellen“ angehängt zu bekommen. Wer gesehen hat, wie Brandts nationalem Pathos in Berlin zugejubelt wurde, muß eingestehen, daß damit die Gemütslage der Partei getroffen wurde. Lafontaine tat das Gegenteil und wurde dennoch gefeiert. In diesem Grundsatzkonflikt bewegt sich die SPD. Tatsächlich geht es bei der Kanzelerkandidatur Lafontaines um weit mehr als nur um die Frage, in welcher Form sich die Partei von Kohls Staatsvertrag distanziert. Es geht darum, ob sie bereit ist, gerade jetzt mit einem Mann anzutreten, der mit dem Patriotismus im klassischen Sinne nichts zu tun hat, also bereit ist, sich tatsächlich zu modernisieren. Das jetzige Dilemma zeigt, wie schwer sich die SPD damit tut. Hätte sie einen vergleichbar populären Kandidaten, der im Mainstream von „Deutschland einig Vaterland“ mitschwimmen würde, zur Alternative, die Entscheidung wäre längst gefallen.
Daß dem nicht so ist, ist die eigentliche Chance der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Sie muß sich entscheiden und sie entscheidet damit gleichzeitig, ob die Deutschen (wann immer die Wahlen nun stattfinden werden) tatsächlich eine Wahl haben. Deshalb ist Oskar Lafontaine genau der richtige Mann zur richtigen Zeit.
Jürgen Gottschlich
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