: „Wir haben die Büchse der Pandora geöffnet“
Am heutigen Dienstag finden in Algerien die ersten freien Kommunal- und Gemeindewahlen statt / Führungsposition der bisher allein regierenden „Front de Liberation National“ (FLN) ist gefährdet / Fundamentalistische „Islamische Heilsfront“ könnte stärkste Partei werden ■ Von Walter Saller
Dem noch-sozialistischen Algerien steht heute eine Premiere ins Haus: die ersten freien Kommunal- und Provinzwahlen seit 1962. 24 größere Parteien, von der bis dato allein regierenden, sozialistischen Einheitspartei „Front de Liberation National“ (FLN) bis hin zur fundamentalistischen Religionspartei „Front Islamique du Salut“ (FIS), haben zum Urnengang aufgerufen.
Seit dem Ende des Unabhängigkeitskampfes gegen die französischen Kolonialherren im Jahre 1962 lag der nordafrikanische Maghreb-Staat Algerien im Windschatten der internationalen Politik. Denn obwohl das sozialistische Land seit der Unabhängigkeit stets eine bedeutende Rolle als Modell für antikoloniale Revolutions- und Befreiungsbewegungen der Dritten Welt spielte, hielt sich das politische Engagement der Supermächte in Algerien in engen Grenzen.
Erst mit den schweren Oktober-Unruhen von 1988 geriet der Maghreb-Staat wieder ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Die Oktober-Revolte, die zunächst wie lokaler Protest der Hauptstädter gegen schlechte Versorgung, galoppierende Lebensmittelpreise, hohe Arbeitslosigkeit und drückende Wohnungsnot anmutete, weitete sich rasch zum landesweiten Aufruhr aus. Das Volk kündigte augenfällig der regierenden FLN, die aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich hervorging, den Gehorsam auf.
Völlig überraschend indes reagierte die sozialistische Regierung unter Präsident Schadli Ben Dschadid auf die Ereignisse. Der Präsident machte seinem Namen, „Sohn der Neuerung“, alle Ehre und leitete eine umfassende Demokratisierung des Landes ein, die in der gesamten arabischen Welt ohne Beispiel ist: Die FLN gab ihr Machtmonopol auf, verabschiedete im Februar 1989 nach einer Volksabstimmung eine neue, demokratische Verfassung, legalisierte 23 Parteien, darunter die fundamentalistische FIS und öffnete Tür und Tor für - freilich noch begrenzte ausländische Investitionen. Für 1992 kündigte Schadli darüber hinaus freie Parlamentswahlen an.
Etliche Algerier allerdings stehen dem neuen politischen Klima durchaus kritisch gegenüber. Zwar ziehen sie keineswegs die Notwendigkeit einer umfassenden Demokratisierung in Zweifel. Wohl aber deren Tempo. „Die Leute sind verunsichert und wissen nicht, was sie mit der neuen Freiheit anfangen sollen“, meinte ein algerischer Journalist. Und ein anderer fügte mit Blick auf die Wahlzulassung der FIS hinzu: „Damit haben wir die Büchse der Pandora geöffnet.“
In der Tat, mit der Legalisierung der Koranstreiter, die von dem 59jährigen Hochschullehrer Abbassi Madani straff geführt werden, hat Präsident Schadli als einziger Maghreb -Regent gewagt, was vielen Beobachtern als politisches Harakiri erscheint. Denn in kürzester Zeit hat es die FIS auf beinahe 600.000 eingeschriebene Mitglieder gebracht. Die Religiösen behaupten gar, drei der 25 Millionen Algerier in ihren Parteilisten zu führen.
Dies mag übertrieben sein. Aber auch Wahlumfragen prognostizieren den Fundamentalisten, die landesweit durch Gewaltakte auf sich aufmerksam gemacht haben, für die Juni -Wahl einen Stimmanteil von 30 bis 35 Prozent. Einige meinen sogar, die FIS werde stärkste Fraktion werden. Auch im Stadtbild von Algier ist der wachsende islamische Einfluß augenfällig. Immer häufiger begegnet man tief verschleierten Frauen und westlich gekleidete müssen zunehmend mit Attacken selbsternannter Sittenwächter rechnen. Algerische Frauenorganisationen forderten daher Regierungschef Hamrusch auf, entschieden gegen solcherlei Umtriebe vorzugehen.
Aller Voraussicht nach dürften von allen Parteien, die an der Wahl teilnehmen, nur drei Chancen auf zweistellige Ergebnisse haben: die FLN, die FIS und die Berberbewegung „Rassemblement pour la culture et la democratie“ (RCD) von Said Saadi. Die „Front des forces socialistes“ (FFS) von Hocine Ait Ahmed, der erst vor sechs Monaten nach 23 Exiljahren zurückkehrte, dürfte zumindest die algerische Sieben-Prozent-Hürde überspringen.
Freilich, Premierenereignisse enthalten immer einen gewissen Unsicherheitsfaktor. Vor allem die gut 1.500 „unabhängigen Kandidaten“, von denen etliche bis vor kurzem noch der FLN angehörten, könnten für einige Überraschung sorgen. Denn aus Verdrossenheit über die einst allmächtige FLN und aus Angst vor den hitzköpfigen Religiösen könnten viele Wähler bei den Unabhängigen ihr Kreuzchen setzen.
Angesichts der starken, fundamentalistisch-islamischen Kräfte wird es bei den Wahlen nicht nur um Kommunalwahlen gehen, sondern auch darum, ob der Maghreb-Staat nach beinahe drei Jahrzehnten sozialistischer Einparteienherrschaft einer nun drohenden, religiösen Intoleranz begegnen kann.
Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen dafür sind jedoch - angesichts der Tatsache, daß die FIS vor allem von arbeitslosen Jugendlichen aus den Großstädten des Landes unterstützt wird - denkbar schlecht. Mit dem rapiden Ölpreisverfall von 1986 hat Algerien über Nacht 25 Prozent seiner Deviseneinnahmen verloren. Die Auslandsschulden haben ein bedrohliches Niveau erreicht und viele Grundnahrungsmittel sind ebenso rare wie teuere Mangelware. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 26 Prozent und wird auch weiterhin unaufhaltsam steigen. Denn jeder dritte Algerier ist heute jünger als 14 Jahre und wird morgen schon vergeblich auf Arbeitssuche sein.
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