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Von der grünen Utopie zur rot-grünen Perspektive

■ Besser rot-grün verbunden als schwarz-rot verbündet / Angesichts der Gesamtberliner Wahlen wäre die Tolerierung eines roten Senats hasenherzig

Die rot-grüne Koalition läßt seit nunmehr einem Jahr kein aufsehenerregendes politisches Hindernisrennen aus Bremsklötze und Auszeiten wegen Schlechtwetter inklusive. Seit dem 9. November mußten die Startlinien neu gezogen, die Hürden versetzt und auch das Ziel verschoben werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt machte sich die AL daran, jedes Stolpern oder Zögern als Sturz zu beklagen und Schweißtropfen als Identitätsverlust zu beweinen.

Es verging allerdings auch kaum ein Rennen, in dem es nicht böse Fouls durch die potentiell regierungs-trainierten MitläuferInnen gab. Dank des stets unterschätzten Rückenwindes erreichte die rot-grüne Verbindung verhalten optimistisch die Qualifikationsrunde. Und da gehört sie auch hin.

Der Erwartungsdruck auf die rot-grüne Koalition war von Anfang an extrem hoch. Hofften die einen auf eine konsequente ökologische, soziale und frauenpolitische Wende, für deren Konsequenz gerade die AL bürgen mußte, so orakelten die anderen mit Schärfe, Polemik und streckenweise wüst und denunziatorisch, das Ende (vermeintlich) vernünftiger Berlin-Politik. Neben den Altlasten, den Streits und schließlich den deutschlandpolitischen Aufschwüngen des Regierenden geriet das politische Alltagsgeschäft in den Hintergrund. Gerade dort zeitigte die alternative Beharrlichkeit jedoch Erfolge, die den Eindruck eines obsoleten Bündnisses nachhaltig widerlegten.

Die AL als permanenter Störenfried hat zum einen bewirkt, daß politische Entscheidungen in dieser Stadt so transparent und publik sind wie nie zuvor, und zum anderen, daß keine rote Ressortentscheidung ohne grüne Korrektur davonkommt.

Betrachten wir zum Beispiel den wichtigen Bereich Kindertagesstätten: die Pessimisten starren auf den Streik und sehen nichts als den Mißerfolg. Tatsächlich gibt es aber ein ganzes Paket großer und kleiner Maßnahmen, angefangen beim Platzausbau im Kita-Bereich um 12.000 Plätze, was nahezu eine Vervierfachung gegenüber der alten Planung ist, über die Verbesserung des Personalschlüssels mit den entsprechenden 250 zusätzlichen Stellen bis hin zu den Konzepten der Integration behinderter Kinder in Regel -Kitas.

Nach Jahren der Funkstille in der pädagogischen Diskussion gibt es nun Beratungsstellen für Eltern-Initiativ-Kitas, gibt es Ausführungsbestimmungen für Kindertagesstätten, die an die Entwicklung der Kleinkinderpädagogik anknüpfen, werden künftig Kitas als wohnungsnahe und nachbarschaftsorientierte Einrichtungen geplant.

Die ErzieherInnen sind heute wieder gefragt: gezielt wird an den Schulen und unter Umschulungswilligen geworben, erste Schritte zur Verbesserung der Ausbildung sind mit der Intensivierung des Praxisbezuges anerkannt, der Austausch unterstützt, Publikationen und Veranstaltungen begleiten diesen Prozeß. Dieser unumkehrbare Schub ist der Beginn zur Etablierung der Kita als Bildungseinrichtung für alle Kinder, er markiert die Bedeutung der öffentlichen Kleinkinderziehung.

Die Einrichtung eines Referats für gleichgeschlechtliche Lebensweisen oder die konsequente Berücksichtigung von Mädchen in der Jugendarbeit - dies sind alternative Akzentsetzungen ebenso wie die Drogenpolitik: Statt mittels „Nationaler Drogenbekämpfungspläne“ kriegerisch in den Ruf nach Strafe und Repression einzustimmen, wird das Drogenhilfesystem in Berlin nach den Bedürfnissen und Erfordernissen der Abhängigen ausgerichtet - etwa mit der Ausweitung der Methadon-gestützten Therapie oder mit frauenspezifischen und niedrigschwelligen Angeboten.

Die Enttäuschung in der Frauenpolitik hat Heide Pfarr eindrucksvoll als unvermeidlich beschrieben. Dennoch ist es dem neuen Ressort für Frauenpolitik in sehr kurzer Zeit geglückt, frauenpolitische Aufgaben Punkt für Punkt anzugehen. Die frauenpolitischen Schwerpunkte reichen von der parteilichen und direkten Unterstützung für von Gewalt bedrohten Frauen, verbesserten Arbeitsbedingungen in den Frauenhäusern und bei „Wildwasser“ über zusätzliche bezirkliche Zufluchtswohnungen bis zur bundesweit einmaligen Intensivierung der Frauenforschungsförderung. Bei einem Bruch oder bei der Tolerierung steht frauenpolitisch sehr viel auf dem Spiel: das Landesantidiskriminierungsgesetz wird im Rohentwurf Anfang des Sommers veröffentlicht, die anstehende Bundesratsinitiative zum Paragraph 218 war noch nie so aussichtsreich, der 1. Europäische Frauenkongreß wird im November Perspektiven für die Frauenpolitik in Ost und West entwickeln.

Die AL verfügt über ein beachtliches Auseinandersetzungsreservoir. Nach dem Wechsel auf die Regierungsbank wurde allerdings deutlich, daß die Macht der Stärkeren kompromißresistenter war als ohnehin befürchtet. Die AL hat in die rot-grüne Koalition viel Utopie und wenig Regierungserfahrung eingebracht. Utopien aufzugeben ist schmerzhaft, sie zu realisieren unmöglich. Utopien müssen die Perspektive der Politik konturieren, dürfen sie jedoch nicht ersetzen.

Die alternative Handschrift in vielen Bereichen ist unverkennbar: Sie bedeutet nicht einfach ein Stück bessere Politik, sondern sie verankert damit einen Teil jener Utopien, die Rot-Grün möglich und zu einer Perspektive auch über Berlin hinaus gemacht haben. Angesichts der baldigen Gesamtberliner Wahlen einen roten Senat zu tolerieren, wäre hasenherzig, nicht stachelig.

Um im Bild zu bleiben: das Feld einer schwarz-roten Läuferschar zu überlassen, heißt, sich politisch selbst ein Bein zu stellen. Noch bestimmt die Alternative Liste Richtung und Tempo ihrer Runden, ein erschöpfter Ausstieg bedeutete jedoch entgegen landesweit günstiger Prognosen das endgültige Aus. Läuft sie jedoch tolerant im Windschatten mit, so verhilft sie dem abgeschlagenen schwarzen Feld zu einer unangefochtenen Favoritenrolle gegenüber dem derzeitigen Koalitionspartner.

Anne Klein Senatorin für Frauen

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