: "Euthanasie"- Debatte
■ betr.: "Schlupflöcher der Ethik", (Prof. Ernst Tugendhat), taz vom 6.6.90, "Stellungskrieg oder Diskussion" (Götz Aly), taz vom 7.6.90
betr.: „Schlupflöcher der Ethik“, (Prof. Ernst Tugendhat), taz vom 6.6.90, „Stellungskrieg oder Diskussion“ (Götz Aly),
taz vom 7.6.90
Tugenhat sieht in der Sprenung eines Seminars über Praktische Ethik, die er als Ohrfeige empfunden hat, einen symbolischen Gewaltakt, der aber als ein „äußerstes, immer moralisches Kommunikationsmittel, gewöhnlich aus unterlegener Position“, also als ein Aufschrei verstanden werden muß. Und mit Kopfschütteln stellt er nun beim Durchlesen der sogenannten „Erklärung Berliner Philosophen“, die von ihm mitunterschrieben wurde, fest, daß dort „kein Wort des Verständnisses für die Betroffenheit der Behinderten“ zu finden sei - und ein solcher faux pas unterläuft professionellen Ethik- und Moralexperten, denen doch bewußt ist, daß Moral in der Fähigkeit besteht, die Standpunkte anderer einnehmen zu können.
Auch der nun folgende Vergleich mit der hypothetisch angenommenen Diskussionswürdigkeit der Nürnberger Rassegesetze, bei dem sich Tugendhat als potentieller Störer eines solchen Seminars sieht, erweckt den Eindruck, als habe ein Meinungswechsel stattgefunden. Tugendhat konzediert die Berechtigung der Behinderten, sich betroffen zu fühlen, und entkräftigt auch das oft genannte Argument, um diejenigen Behinderten, die hier protestierten, ginge es ja nicht. Er stellt fest, daß „allemal... solche Regelungen von Singer ins Auge gefaßt“ werden (wobei mit „Regelungen“ die Tötung des protestierenden Personenkreises gemeint ist).
Von hier ab schwenkt Tugendhat über die Notwendigkeit, ein wichtiges praktisches Problem zu lösen, nämlich das Problem der unheilbaren und schwerleidenden Menschen, die ihren Willen nicht äußern können, auf die alte Linie ein, daß diese lebenswichtigen Fragen gelöst, also diskutiert werden müssen - allerdings unter einer Bedingung: in diesen Diskussionsprozeß sollten Behinderte als Betroffene einbezogen werden.
Richtig daran ist, daß es diese Probleme gibt und sie praktisch behandelt werden (schon jetzt) und werden müssen.
Doch aus welch einer Ferne hier geschrieben wird, verrät die Diktion, in der argumentiert wird: „Ihre Diskussion (der oben genannten Probleme, W.B.), ist zwar - beim jetzigen Status quo - im negativen Interesse der Behinderten, sie ist aber zugleich im positiven Interesse aller.“ Es drängt sich penetrant die Nähe zur Singerschen Wortwahl auf: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.“
Oder: „Dies erfordert von mir, daß ich alle Interessen abwäge und jenen Handlungsbedarf wähle, von dem es am wahrscheinlichsten ist, daß er die Interessen der Betroffenen maximiert. Also muß ich den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat.“ (Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 1984).
Was insgesamt in der Argumentation um diese Auseinandersetzung auffällt und erschreckt, sind die Weglassung nicht nur historischer Erfahrungen bezüglich der Entstehung des NS-Mordprogramms an Behinderten (Stichworte: akademische Diskussion/Asylierung/Sterilisation/Tötung), sondern auch der konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen diese Diskussion im Moment stattfindet. Dazu gehören die bekannten Kosten-Nutzen -Analysen zur Pflege von Kranken und Behinderten, die Kostendämpfungsdiskussion im Gesundheitswesen, das Vorantreiben der gesellschaftlichen Akzeptanz der Gentechnologie, die Ausweitung der humangenetischen Beratung und der pränatalen Diagnostik und die mit allem zusammenhängende Zunahme der Behinderten- und Frauenfeindlichkeit (Frauen werden in Zukunft als Schuldige für die Geburt von behinderten Kindern gesellschaftliche Ächtung und Benachteiligung in psychischer und finanzieller Form erfahren).
Fazit: Behinderte wehren sich nicht gegen die Tatsache, daß es Situationen gibt, in denen Ärzte und Eltern über die Existenz der ihnen anvertrauten Kinder entscheiden müssen. Diese Situationen existieren tatsächlich, und die Genannten tragen die Verantwortung für ihre Entscheidungen, müssen folglich auch dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. Ähnlich ist die Lage von Richtern zu beurteilen, die über die Lebenschanchen der von ihnen Verurteilten entscheiden, und dafür geradezustehen haben.
Wogegen sich Krüppelgruppen wehren, ist die Anmaßung von sich berufen fühlenden Personen, in diesem Falle von Ethik -Professoren, allgemein-verbindliche Regelungen aufstellen zu wollen, die in ihrer Allgemeinheit notwendigerweise beliebig ausweitbar sind, und damit individuelles Handeln der Verantwortbarkeit entziehen wollen.
Der Hinweis von Tugendhat, die Diskussionen könnten in anderer Qualität weitergeführt werden, wenn man Verständnis für die Betroffenheit der Behinderten zeige und sie zur Mitarbeit in der Diskussion auffordere, wirkt angesichts der historischen Erfahrung, angesichts der oben genannten gesellschaftlichen Entwicklungen peinlich ignorant und akademisch distanziert.
Trotz der gut gemeinten Absicht, die den Autor bewegte, halte ich den alten Satz für angebracht: si tacuisses... (Säzzerinnenservice für NichtlateinerInnen: Oh, wenn du doch geschwiegen hättest!)
Werner Brill, Saarbrücken
Kaum hat Ernst Tugendhat wieder mal eine Resolution unterschrieben, muß er auch schon den Kopf darüber schütteln. Andere haben das anstatt zu unterschreiben getan. Nun ist die Philosophie aus dem Sich-Wundern entstanden, also ist noch Hoffnung. Aber Spaß beseite. Götz Aly hat am 7. Juni wichtige Konsequenzen von Tugendhats „Ethik“ gezeigt: sie ist kein Bollwerk gegen die Euthanasie. Und gerade weil sie „ans Eingemachte“ gehen, wie Aly sich ausdrückt, an das Lebensrecht, wird man mit Tugendhat weiterdiskutieren müssen, und zwar darüber, warum es über die Zulassung von Euthanasie keine Diskussion geben kann.
Erst jüngst zu den Römerberggesprächen in Frankfurt hat er deklariert, unsere Moral sei nur in der „jüdisch -christlichen Tradition“ begründet - auch Aly bezieht sich darauf -, womit sie denn auch disqualifiziert sei. So global gesehen hat diese Tradition ein beachtliches Maß an Kontinuität für sich, von der nicht leicht zu begreifen ist, wieso sie durch einen Berliner Philosophen abgebrochen werden soll. Außerdem überblickt Tugendhat sie überhaupt nicht, weder in der philosophischen Stimmigkeit noch gar in ihrem Facettenreichtum, sonst würde er sie nicht auf ein Stückchen biblischer Geschichte und Kinderkatechismus reduzieren.
Wenn Tugendhat Historiker wäre, würde er bedenken, daß Aristoteles (weder Jude noch Christ, aber zur Tradition zugehörig) es zum Beispiel für lächerlich hält, zu diskutieren ob es Natur gibt, und Augustinus zitiert immerhin den Scherz, der liebe Gott habe für solche Leute, die Fragen, was Gott tat, bevor er die Welt erschuf, die Hölle erschaffen. Will sagen: Der Philosoph kann über alles diskutieren, auch darüber, warum Themen Tabu sind und bleiben sollten. Es steht nicht in unserem Belieben, auch nur um der Redefreiheit willen Euthanasie rechtfertigen zu wollen. Man kann über alles diskutieren, sogar darüber, was passiert sein muß, wenn Tugendhat behauptet, etwas so selbstverständliches wie der Schutzanspruch des Lebens stütze sich auf „heute keineswegs mehr selbstverständliche ethische Vorstellungen“. (Was sind eigentlich „ethische Vorstellungen“?)
Der Philosoph Tugendhat macht einen simplen aber folgenreichen methodischen Fehler. In Ermangelung jeglicher Begründung moralischen Handelns, wie er sie proklamiert, juridifiziert er moralische Argumentation, indem er sie auf fiktionale Einzel- und Grenzfälle reduziert. (Es ist dies die Methode der Juristen, die Anwendbarkeit von Rechtsnormen zu testen.) Denn von Grenzfällen kann man in der Tat keine Handlungsmaxime ableiten, vielmehr folgt das Handeln im Konkreten der Begründung (gewußt oder nicht). Wenn nicht klar ist, daß Leben keiner Bewertung unterliegt, wenn nicht klar ist, daß es gar nicht in der Kompetenz des Theoretikers liegt, Einzelfälle zu entscheiden, dann steht ihm auch nicht zu, moralisches Handeln zu begründen. Denn dann sucht er Begründungen, wo sie nicht zu haben, und findet sie nicht, wo sie zu haben sind. Solange Tugendhat meint, der Handlungs - und Diskussionsbedarf, den er feststellt und für den er eintritt, beziehe sich auf „unser eigenes Kind“ und dessen Leben, müssen wir Angst haben. Solange Tugendhat sich nicht bemüht zu beweisen, warum es gar keine Zustimmung zur Euthanasie geben kann, wird der „graue Streifen der Ungewißheit“ immer breiter.
Dr.Paul Richard Blum, Königstein
Es ist zweifelhaft, ob sich die Mehrzahl der Teilnehmer an der „Euthanasie-Debatte“, zumal die eifrigen, sich dessen bewußt ist, was sie beschäftigt. Schon die Umschreibung der Frage, die sie erörtern, als „lebenswichtige“, ist irreführend. Auch die Einlassung auf die Diskriminierten (beispielsweise bei Tugendhat) läßt eine Ungeduld erkennen, die sich derer bemächtigt, die sich in ihrer Akzeptanz schon überstrapaziert fühlen. Von der Definition aus gesehen, glaubt Tugendhat im übrigen nichts anderes als alle „Normalen“, daß nämlich der Behinderte nicht ganz menschlich ist, so daß allein schon dadurch die Hemmschwelle, „die Frage“ radikal zu stellen, herabgesetzt ist. Wie weit eine theologische Argumentation einen nennenswerten Einfluß ausüben kann, weiß ich nicht zu sagen. Möglicherweise kann eine Rückbesinnung auf kritische Positionen in der Soziologie (und auch Philosophie) der sechziger und siebziger Jahre dieser beängstigenden Debatte um „Tötungschancen“ (die auf Dauer zu einer völligen Umdeutung des Ethik-Begriffs führt) etwas bewirken.
Kurt Riehl, Frankfurt am Main
Das Dilemma und die ungeklärten, schroffen Widersprüche linker Identität und Welt-Ansprüche ist offenbar: Die Realität wird willkürlich und zwiespältig in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt und bewertet: „böse“ Euthanasie, „gute“ Abtreibung allgemein, „böse“ Waffen für die Contras, „gute“ für die Sandis, „böse“ Faschos, „gute“ RAFler etc.
Dr. Tugendhat meint sogar einräumen zu müssen: „Weil es aber nicht jene scharfe Grenze gibt, sondern einen breiten grauen Streifen der Ungewißheit, läßt sich auch nicht eine gute Euthanasie von der bösen säuberlich trennen...“ Welch irrtümlicher Werteschwund!
Es gibt überhaupt keine gute Gewalt, keine guten Waffen, keine gute Euthanasie, keinen guten Mord oder Abtreibung oder Selbsttötung (nicht mal den Tyrannenmord), aber auch keine andere ethische, politische, soziale Legitimation für Gewalt, Mord und Totschlag. Mord bleibt Mord.
Manche glauben sich zum Richter und Herrn über Leben und Tod aufschwingen zu können - aber sie werden sich selbst damit richten, denn der Herr über Leben und Tod ist ein anderer als der Mensch.
Reinhard Teibach, Stuttgart
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen