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„Also leben?“

■ Peter Zadeks spektakuläre Zadek-Inszenierung

Dieter Bandauer

Iwanow, ein verschuldeter Gutsherr, meidet seit einem Jahr abends das Zusammensein mit seiner an TBC leidenden Frau. Von ihr zur Rede gestellt, warum er denn jeden Abend zu den Gesellschaften bei den reichen Lebedews gehen müsse, antwortet er: „Wenn mich die Schwermut quält, höre ich auf, dich zu lieben. Dann fliehe ich vor dir.“ Daß er schwermütig wird, weil er sie nicht lieben kann, ist wohl die Kehrseite einer Medaille, mit der keine Schuld zu begleichen ist. Daß er „sich nicht mehr kennt“, wenn sein „Gewehr nicht losgeht“, ist entlarvender, als er vermutet.

Iwanow ergeht sich gewissermaßen in Selbstanalysen - und doch liegt die Wahrheit immer hinter seinen Worten. Seine Selbstbezichtigungen sind Schutzbehauptungen, Meisterleistungen der Verdrängung: Er klagt sich an, um von sich abzulenken.

Zu den Lebedews fährt er nicht, um sich „zu amüsieren, sondern wegen des Wechsels„; dort sei es sogar schlimmer als zu Hause. Sascha, die Tochter des Hauses, hat recht und weiß doch nicht, was sie sagt, wenn sie den Anwesenden vorwirft: „Ach, meine Herren! Bei Ihnen steckt nichts dahinter, nichts dahinter!“ In solcher Gesellschaft wird selbst ein Iwanow zum Hahn im Korb, wenn auch ein „alter, nasser Hahn“, wie er meint.

Sascha verkörpert mit ihrer Schwärmerei für Iwanow, mit ihrem Glauben an eine „aktive Liebe“, die den Männern zu Arbeit und Leben wieder Mut machen könne, eine jener frühen Tschechowschen Frauenfiguren, die ihre ganze Hoffnung noch im Mann begründet sehen. Die drei Schwestern z.B. werden diesen Idealismus verloren haben: Ihre Hoffnungen sind Moskau, die Arbeit - aber auch diese sind von Resignation getrübt, nur noch ein Refrain. Sie haben von Iwanow gelernt und die Alternative - „ist es wirklich schlimmer, die Frau eines starken, kühnen Menschen zu sein als die Krankenschwester eines weinerlichen Versagers?“ - stellt sich ihnen nicht mehr. Aber auch Iwanow selbst ist desillusioniert, seine Anziehungskraft Frauen gegenüber tatsächlich nur noch eine peinliche Last. Als Sascha ihm ausdauernd genug ihre Liebe bekennt, sucht ihn, wenn auch nur kurz und mit Fragezeichen versehen, das Glück heim: „Was ist denn das? Das Leben soll von vorn beginnen? (...) Also leben? Ja? Wieder arbeiten?“ Doch was von Wiederholungen zu halten ist, hat Iwanows Onkel Schabelskij zum Geburtstag der jungen Sascha schon ausgedrückt: „Mögen Sie spät sterben und kein zweites Mal zur Welt kommen.“

Nach dem Tod seiner Frau kommt es zur Heirat zwischen Iwanow und Sascha. Aber nicht Flehen und liebendes Werben läßt ihn letztendlich sein Jawort geben, sondern - obwohl ihm das nicht zu Bewußtsein kommt - das Versprechen seines Freundes und Schwiegervaters, sein erspartes Vermögen der Mitgift hinzuzufügen. Daß Iwanow hohe Schulden bei der Brautmutter hat (die diese von der Miftgift abzuziehen gedenkt), stellte die Heirat ohnehin ins Licht jener Ökonomie, das noch jeden Himmel zu ersetzen wußte und welches das gesamte Tschechowsche personal förmlich durchleuchtet.

So nimmt auch die Hochzeitsfeier einen durchaus adäquaten Verlauf und wird für Iwanows Gutsverwalter, der für ein Unternehmen Geld benötigt, zum Heiratsmarkt, auf dem ihm eine reiche junge Witwe gerade recht kommt - bis der Arzt, von narzistischer Wahrheitsliebe getrieben, Iwanow als Schuft beschimpft. Inmitten der aufgeregt zusammengelaufenen Gesellschaft bricht dieser tot zusammen.

Zadek greift mit diesem Schluß, wie auch an anderen Stellen, auf die von 1887 stammende erste Fassung zurück. In späteren Versionen des Stückes verübt Iwanow Selbstmord. In Gert Voss‘ Interpretation der Titelfigur wäre ihm die Aktivität eines An-sich-selbst-Hand-anlegens aber kaum noch zuzutrauen. Zu Beginn sitzt Voss in sich versunken und wie abwesend auf der leeren Bühne. Wenn er von seinem Gutsverwalter (Uwe Bohm spielt die „Seele der Gesellschaft“, in der alles aufs Geld hinausläuft, mit theatralischem Kalkül) mit vorgehaltenem Gewehr aufgeschreckt wird, weiß man sofort, daß diesen Mann nichts mehr wirklich aus seiner früh gewählten Unruhe bringen kann. Im Streit mit seiner Frau oder ihrem Arzt ist er über sein Aufbrausen mehr erstaunt, als davon mitgerissen.

Anna Petrowna ist eine Jüdin, die aus Liebe zu Iwanow die Religion gewechselt hat und dafür von ihrer Familie verstoßen wurde. Angela Winkler spielt sie als Frau, die sich eine kindliche Naivität zugesteht, ohne deshalb dem Erwachsensein zu entkommen. Immer wieder für wenige Augenblicke läßt sie einen Lebenswillen aufflackern, der sich entzündet, um gleich wieder zu erlöschen.

In einmem Brief Tschechows an seinen Bruder über die Entstehung seines Dramas heißt es: „Jeden Akt beendet ich wie eine Erzählung: Ich führe die ganze Handlung friedlich und still, aber am Schluß gebe ich dem Zuschauer eins auf die Schnauze.“ Angela Winkler obliegt es in drei von vier Aktschlüssen, diesen Tempowechsel zu vollziehen. Zuerst fordert sie den Arzt spontan auf, ihr zu den Lebedews zu folgen. Dort irrt sie herum, ohne jemandem zu begegnen, um dann Iwanow dabei zu beobachten, wie er Sascha küßt. Im dritten Akt kommt es wegen eines Besuchs Sachas zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Iwanow seine Frau anschreit: „Halts Maul, Judenweib!“ Es ist kaum zu erzählen, welche lange Geschichte Zadek die beiden Schauspieler in dem darauf folgenden Augenblick spielen läßt. Winkler wird beinahe übermütig fröhlich, umhalst Voss, spricht die Drohung, daß sie jetzt nicht schweigen kann, als wäre alles gar nicht mehr so tödlich ernst, als wäre das Eis gebrochen; daß Liebe zwischen ihnen einmal tatsächlich möglich war, blitzt auf, zwei Gläser werden gefüllt - doch dies alles war nur ein Spuk, die Wirklickeit läßt sich nicht wie böse Geister vertreiben. Winklers Körper verfestigt sich, und mit den Worten, daß er doch jetzt Sascha betrügen soll, kippt sie ihm den Wodka ins Gesicht. Voss vergreift sich darauf an der Wahrheit, aber auch dabei geht sein Temperament nicht mit ihm durch, was exakt Tschechows Text entspricht: „Dann sollst du auch wissen, daß du bald sterben wirst.“ So spricht jemand, der bedenkt, was er sagt. Selbst als Iwanow seine Frau zum Judenweib stempelte, kündigte er dies sanft an: „Ich habe die größte Lust, dich zu beleidigen.“

Tschechows Geschichte ist sicherlich eine Fundgrube für jeden Freudianer. Das Außerordentliche an Zadeks Inszenierung ist nun gerade, daß er in dem psychoanalytischen Fundus nicht herumstöbert, keinen Seelenstriptease veranstaltet, sondern den Figuren ihre Freiheit, ihre ihnen eigene Melodie gibt, ohne ihnen die geringste Beliebigkeit zuzugestehen.

Auf einer von der nackten Brandmauer begrenzten, meist fast leeren Bühne und bei schwach erleuchtetem Zuschauerraum (was Zadek ja bereits in seiner Lulu-Inszenierung praktizierte) wurde jegliches Illusionstheater ebenso verweigert, wie der ständige Verweis auf die Anwesenheit des Theaterraums nicht als Rechtfertigung für Theatralik ausgenutzt wurde. Die Zuschauer wurden vielmehr mit der Tatsache ernüchtert, daß auch ein seelenloses Theater ein weites Land sein kann.

Anne Bennent als Sascha, Martin Schwab und Elisabeht Orth als ihre Eltern (die Lebedews), Hans Michael Rehberg als Iwanows Onkel, Therese Affolter als reiche Witwe, Annemarie Düringer als „alte Frau mit unklarem Beruf“ (aber um so klareren Vorstellungen, daß Geld und Liebe einander aufwiegen lassen), Urs Hefti und Pavel Landovsky als markanteste Gäste bei den Lebedews bilden mit Voss, Winkler, Bohm und Kirchner ein Ensemble eigenwilliger Solisten, das wohl auch Ausdruck eines bis vor kurzem nur in der Opernbranche üblichen Jetset der Stars ist. Gleichzeitig wird mit Zadeks Inszenierung, in der die Schauspieler fern jeder Eitelkeit agieren, ein Maßstab geschaffen, dem gegenüber sogar Jürgen Flimms gefeierte Platonow -Interpretation seltsam konventionell wirkt. Selbst Zadek scheint noch keine auf so unspektakuläre Weise spektakuläre Arbeit gelungen zu sein.

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