Wessen Schuld, wessen Verdienst?

Ferenc Fejtö über die Linke und den Zusammenbruch des realen Sozialismus  ■ D O K U M E N T A T I O N

Vor kurzem veröffentlichte 'The Sunday Telegraph‘ einen Artikel - zu meinem Bedauern -; dem Namen des Verfassers begegnete ich zum ersten Mal. Der Publizist Peregrine Worsthome stellt eine Antwort erheischende Frage, nämlich: Why no shame on the left? Das ist schwer zu übersetzen. Warum schämt sich die Linke nicht, warum bittet sie nicht um Verzeihung, warum ringen sie nicht die Hände und rufen „mea culpa“? Der Kern des Artikels ist folgender: Seit dem Krieg hat die zivilisierte Welt gegenüber all denen, die - mehr oder weniger - für die teuflischen Verbrechen des Nazismus verantwortlich gemacht werden können, Zeugnis von ihrer musterhaften und begrüßenswerten Verachtung abgelegt. Warum gibt es bei den Linken, mit Ausnahme des lobenswerten „Saumes“ der Ultralinken (Trotzkisten, 86er), für all jene Vergebung, die mit den kommunistischen Tyrannen Mitteleuropas sympathisierten, um Sympathie für sie warben, mit ihnen Dialoge führten, zusammenarbeiteten und dazu beitrugen, daß sie ihre Positionen stärken konnten?

Ich bin mit dem Verfasser des Artikels überhaupt nicht einer Meinung, bin gegen seine Anklage, dagegen, daß er einen Vergeltungsfeldzug a la McCarthy, eine Hexenjagd zu initiieren beabsichtigt - gegen jene Politiker und Intellektuelle, die sich bis in die letzten Tage hinein von der kommunistischen Propaganda infizieren ließen, da sie an eine glücklichere Zukunft glaubten, an die Ewigkeit der sowjetischen Großmacht, ja, die sogar die Vorstellung hatten, daß die Perspektive der Welt im Kommunismus liegt.

„Errare humanum est“ - irren ist menschlich. Doch ich verstehe bei allem die Empörung von P.W. gegenüber dem Schauspiel, das jetzt von jenen aufgeführt wird, die einst die Vorreiter für Dialog und Zusammenarbeit mit der „Großen Alternative“, der „Zweiten Welt“ waren. Und nun geben sie das Resultat, daß das sowjetische Reich auseinanderfällt, daß Mitteleuropa befreit ist, als das ihrige aus. Der Verfasser hat mit seiner Meinung recht, daß es sich dabei um „die fürchterliche Verfälschung der Geschichte“ handelt. Die Wahrheit ist, daß nicht die schüchtern an Raum gewinnende „Ostpolitik“ eines bedeutenden Teils der Linken - jenes Teils, der sich in die Tiefe der Seele nach Neutralität sehnt, bis ins Mark antiamerikanisch und matt europäisch ist - den Kalten Krieg gewann. Auch daß die sowjetischen Führer gezwungen wurden, die Schwäche ihres Systems anzuerkennen, ja dasselbe gar auf den Müll zu werfen, ist nicht das Verdienst der Linken.

Nein, denn hier siegte die von Truman bis Reagan stur vertretene Atlantikpolitik der Vereinigten Staaten und das von Robert Schumann, Jean Monnet - muß an dieser Stelle auch de Gaulle erwähnt werden? - initiierte europäische Werk. Man muß zugeben, daß die Rechten mehr Vertrauen in die aus der Tiefe der Geschichte kommenden, realen Kräfte hatten, daß sie eher den Völkern Glauben schenkten als den Bürokratien, denn deren nichtexistentes Vertretungsrecht und deren Stärke anzuerkennen, wäre ein Fehler gewesen. Wenn es von den Meistern der Annäherung, von den manischen Anhängern des Dialogs der Tauben, von den Verteidigern des Status quo der Breschnewisten und Kadaristen abgehangen hätte, dann wären die Schiwkoffs, die Husaks und Honeckers noch immer an der Macht, und sie würden mit ihnen Debatten über die Abrüstung, die Einhaltung der Menschenrechte, die Zusammenarbeit bei Umweltschutz und Produktionstechnologien führen.

Bei all dem ist es wichtig zu betonen - und das tat P.W. nicht -, daß es bei weitem nicht die Linken allein waren, die die Stunde der Wahrheit für die Sowjetunion und deren Vasallen hinauszögerten. Unter denen, die sich zu schämen haben, sind in stattlicher Anzahl auch Vertreter der politischen Rechten Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zu finden. P.W. nannte keine Namen, und auch ich halte mich in dieser Hinsicht zurück. Am besten wäre es, wenn beide Seiten eine Gewissensprüfung vornähmen. Des weiteren halte ich nach den Wahlen in der DDR und in Ungarn gegenwärtig jene für schamlos, die sich mit fremden Federn schmücken; sie scheinen weniger gefährlich als ihre Kumpane, die aus der Defensive angreifen und alles dafür tun, um den Triumph der Freiheit zu besudeln. Sie schüren Angst, indem sie von „unvermeidlichen“, katastrophalen Folgen nach den Volkswahlen reden, mit der Expansion des Pan-Germanen, mit der Wiederbelegung anderer Nationalismen und Irrsinnigkeiten schrecken. Die Freiheit ist immer gefährlich, doch die Angst vor der Freiheit ist stets gefährlicher als die Furcht vor der Tyrannei.

Noch eine Bemerkung. Wenn P.W. die Linken in ihrer Gesamtheit für schuldig erklärt und die Rechten als die großen Sieger hinstellt, verallgemeinert er auf ungerechte Weise. War er es nicht selbst, der die „heldenhafte“ Rolle anerkannte, die die britische Arbeiterpartei seit den ersten Nachkriegsjahren - durch Attlee, Bevin, Healey - im Kampf gegen die totalitäre Ausbreitung spielte? In Frankreich waren Daniel Mayer, Guy Mollet, in Italien Saragat, in Deutschland Schumacher und Richard Loewenthal „artig“, und wie viele Sozialisten und Sozialdemokraten begrüßen sie heute aus vollem Herzen den Zerfall jenes Systems, mit dem sie jegliche, auch taktische Gemeinschaft ablehnten! Es scheint mir, daß die Demokraten und liberalen Sozialisten in der Sozialistischen Internationale Boden verloren haben. Die Leute von der SPD sind überdies weit vom Godesberger Geist entfernt. Parallel zur Fäulnis des Gendarmen- und Terroristen-Marxismus wurden die Führer der Linken vom Virus des matten Marxismus befallen - und zwar in recht beträchtlichem Maße. Als einer, der sich stets als Linker bekannte, verurteilte ich das, schäme ich mich oft dafür.

Doch ich wiederhole: Es ist historisch unbegründet zu erklären, daß die Linken als solche - jene Linken, die sich als Freiheitsliebende definieren - ausschließlich für die versöhnlerische Politik gegenüber dem Kommunismus verantwortlich sind. Ebenso ungerecht wäre es zu behaupten, daß sich nur die Rechten vom Nazismus infizieren ließen. Schwächen, charakterliche Mängel, irrige Rechnungen, falsche Interpretationen historische Erscheinungen sind nicht im voraus aufgrund des Platzes auf dem politischen Schachbrett bestimmbar. Ohne jenen zu verzeihen, die sich kompromittierten und sich deshalb noch nicht einmal schämen, muß man die Gründe suchen, und dabei immer tiefer gehen. Möglicherweise bis ins gesellschaftliche und individuelle Unterbewußtsein.

Ferenc Fejtö

Der Autor ist einer der alten kämpferischen Publizisten Ungarns. Den Krieg erlebte er in französischer Emigration. 1945 kehrte er nach Ungarn zurück. Nach der stalinistischen Wende 1948 verließ er erneut seine Heimat und lebt seitdem in Frankreich. Der Artikel erschien in der ungarischen Tageszeitung 'Magyar Nemzet‘, vor der Wende Regierungsblatt der ungarischen KP.