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"Den Totschläger auf den Nachttisch"

■ Die Magdeburger Nachbarn beschreiben das frührere RAF-Mitglied Inge Viett / Hier lebte sie seit 1987 / Im Karl-Liebknecht-Kombinat organisierte sie Ferienlager für die Kinder /"Freundlich" und ...

Eine Orgie von Zehngeschossern. Zwei Meter grau, ein Meter weiß, ein Streifen gelb als Farbklecks und Alibi für den Architekten. Dann wieder grau, weiß, gelb: zehnmal, zehn Stockwerke hoch. Gesichtslose Neubauten, von Grünflächen mühsam aufgelockert, mittendrin die lange Schlange vor der Kaufhalle am Eisler-Platz. Wer möchte hier wohnen? Victor -Jara-Strasse, Pablo-Neruda-Straße, Johannes-R.-Becher -Strasse, überall dieselben Hochhauszeilen, aber sie wohnte in der Grundigstraße, mittendrin im riesigen Wohnsilo von Magdeburg-Nord. Die Journalistenherde markiert die Haus-Nummer 7, Kinderblicke auf die Kameras, Nachbarinnen erteilen mit bebendem Busen Auskunft.

Inge Viett, die „Top-Terroristin“: Hier hat sie fast drei Jahre lang gewohnt. Eine Zwei-Raum-Wohnung von 52 Quadratmetern für 72 Ost-Mark. In verschnörkelten goldfarbenen Buchstaben steht ihr DDR-Name an der Türe: Eva Schnell. Der Türklopfer ist abmontiert, die drei Bohrlöcher sind geblieben.

Freundin - aber keine Dauerwelle

Auf demselben Stock direkt neben ihr lebt eine pensionierte Kriminalbeamtin. Zum x-ten Mal an diesem Tag beschreibt sie ihre Nachbarin zur Linken. Als Witwe habe die sich hier im Haus vorgestellt. „Ganz dolle, dolle freundlich“ sei sie immer gewesen, aber unnahbar, undurchsichtig, „man kam an die Frau nicht ran“. Auffälligkeiten? Sie sei oft in Urlaub gefahren, an den Feiertagen habe sie regelmäßig die rote Fahne rausgehängt, manchmal noch die DDR-Fahne dazu, „und dann die vielen Autos“. Zuletzt ein roter Lada, davor ein weißer Skoda, insgesamt vier verschiedene Fahrzeuge in drei Jahren. „Da stimmte doch was nicht.“ Hinterher ist man immer schlauer.

Der Tagesschau-Reporter hat das Fahndungsplakat mitgebracht und hält es zur Identifizierung hoch. Auch die zweite Nachbarin zur Rechten erkennt Inge Viett sofort. Nur die Haare habe sie anders getragen. Ganz kurz, „eine Dauerwelle kam ja nie an die ran“. Und sonst: burschikoser Typ, immer in Hosen, gepflegt, jugendlich, unauffällig. Anzüglich berichten die Frauen über die „Freundin“ von Inge Viett, die „ständig hier genächtigt“ habe. Eine andere Mitbewohnerin wird drastischer: „Wir haben immer vermutet, daß sie andersherum war.“ Augenzwinkernde, widerliche Tratschtanten. Wer möchte hier wohnen?

„Schockiert, regelrecht schockiert“, seien sie alle im Haus, jawohl, „und deprimiert“ beschreiben die Frauen ihren angegriffenen Seelenzustand. Zwei Minuten später begrüßen dieselben Frauen aufgekratzt und triumphierend eine heimkehrende Bewohnerin aus dem neunten Stock. „Roswitha, wir haben drei Jahre neben einer Terroristin gewohnt!“ Die ahnungslose Nachbarin wird eingeweiht: „Um drei Uhr haben die sie abgeholt, ein bißchen soll sie noch gequiekt haben.“ Schweine quiecken, Menschen schreien. Doch Schreie hat niemand gehört.

Vor dem Haus hebt eine junge Frau ihr Baby aus dem Kinderwagen. Auch sie kannte Eva Schnell „nur vom Guten Tag und Auf Wiedersehen“ und „mal ein paar private Brocken“. Dennoch muß sie die 46jährige gemocht haben. Sie sei „freundlicher als viele hier im Haus gewesen“, habe die Fahrstuhltüre aufgehalten und mit dem Kinderwagen geholfen. Zum ersten Mal wird etwas Trauer im Gesicht einer Bewohnerin sichtbar, die „an sowas nie gedacht“ hätte. Sowas? „Mord, sagen die im Radio.“

Vor der Türe im zehnten Stock wird noch immer diskutiert: „Eigentlich hätten wir ja jetzt alle eine Entschädigung verdient.“ Gewieher und neue Pointen. „Ich lege heute Nacht meinen Totschläger auf den Nachttisch“, amüsiert sich die Kriminalistin. „Vielleicht hatte die ja noch eine Sprengladung in der Wohnung“, gruselt sich die Nachbarin zur Linken. Eine der Frauen im Haus soll Eva Schnell auf den in Magdeburg neu ausgehängten Fahndungsplakaten erkannt und ans Messer geliefert haben. Von der RAF wissen sie alle nichts. Politik? Da habe sich Frau Schnell nie geäußert. Nur bei den Kommunalwahlen, da sei sie Wahlhelferin gewesen.

Geboren in Moskau - „Buchdruckerwitwe“

An der Elbe entlang nach Süden: Diese Strecke ist Inge Viett jeden Morgen gefahren. Hier ist Magdeburg am schönsten. Die Ruine der Johanniskirche, ein langgezogener Park, ein großes gläsernes Gewächshaus, imposante, alte Häuserfassaden bis die ersten Gebäude des Kombinats „Schwermaschinenbau Karl Liebknecht“ sichtbar werden. Mertensstrasse, Komplex Q6, Abteilung für Sozialwesen: ein trostloser, grauer Kasten mit gelben Stores an den Fenstern. Wer möchte hier arbeiten? Parterre links war ihr Büro. Hier hat die frühere Kindergärtnerin als „Organisationstalent“ die Ferienaufenthalte der Kinder von 6.500 Betriebsangehörigen gemanagt, hat Heime besichtigt und abgenommen, für Betreuung und Verpflegung gesorgt.

Ihre Legende ist perfekt. Ihr Kaderbogen weist eine typische DDR-Karriere aus. Eva Schnell, geboren am 15. Januar 1946 in Moskau, 1959 Eintritt in die FDJ, 1962 Beitritt zur Staatsgewerkschaft FDGB, zur Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und zur paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik. Aber keine SED -Mitgliedschaft. Als „Frau eines verstorbenen Buchdruckers“ kam sie im Oktober 1987 in das Kombinat, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Ende des Jahres wollte sie aufhören, um im nahen Wolmirstedt eine Pizzeria zu eröffnen. Das Geld für die Neuinvestition lag schon bereit.

Ihre beste Kollegin und direkte Mitarbeiterin ist vor dem Journalistentroß geflüchtet. „Zu sensibel“, „Nervenzusammenbruch“ diagnostiziert ein DDR-Reporter kurz und schmerzlos. Die übrigen Kolleginnen und Kollegen schildern Eva Schnell übereinstimmend als „sehr nett“, „beliebt“, „freundlich“. In ihrer Abteilung ist sie sogar zur Vertrauensfrau gewählt worden. Die Pförtnerin hält ihre Sympathie nicht zurück und setzt noch ein paar Attribute drauf: „engagiert“, „bei allen anerkannt“. Sie schiebt ihr Papier beiseite, auf dem sie sorgfältig alle Medien notiert hat, die bisher in Q6 Auskunft begehrten und denkt nach. Für sie steht fest, daß Eva Schnell längst abgeschworen hatte. Die RAF als längst vergessene Jugendsünde? „Jeder baut doch mal Mist, wenn er jung ist, und wenn man dann noch bei so einer Truppe ist...“ Noch immer kann sie die Vorwürfe nicht glauben: „Das hätte wirklich niemand vermutet.“

Wieviel wird sie wohl kriegen? Das fragt sich nicht nur die Pförtnerin. Auch eine Frankfurter Journalistin rechnet nach: „20 Jahre, dann ist sie 66, 30 Jahre dann ist sie 76, auf jeden Fall kommt sie als militante Oma raus. Und sie kommt härter raus, als sie reingeht.“

Das Volkspolizei-Kriminalamt in Magdeburg ist die Reporterseuche allmählich leid. „Frau Viett befindet sich nicht mehr auf Magdeburger Territorium“, lautet die knappe Auskunft des Presseoffiziers. „Sie ist nach ihrer Festnahme sofort nach Ost-Berlin überführt worden.“ Wer möchte dort gefangen sein?

Manfred Kriener

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