„Schlimmere Verbrechen kann es nicht geben“

Die Gesellschaftliche Anklägerin hatte im Magdeburger Kindermord-Prozeß das Wort / Staatsanwalt forderte jeweils 15 Jahre Haft für die beiden Angeklagten / Polizeiermittlungen und Zeugenvernehmungen ergebnislos / Sohn nahm seine belastenden Aussagen zurück  ■  Aus Magdeburg Heide Platen

Die Gesellschaftliche Anklägerin, Jutta Appold trug im Magdeburger Bezirksgericht die Stellungnahme der „Kollektive von Herrn F. und Frau F.“ vor. Ihre Rolle in der DDR-Justiz ist es, im Prozeß um die gemeinsame Tötung von fünf neugeborenen Kindern durch das Ehepaar F. aus Wernigerode in den Jahren 1984 bis 1988 der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen. Jutta Appold faßte in ihrem Plädoyer „Abscheu und Entsetzen“ zusammen: „Sogar die männlichen Kollegen im Stahlbaubetreib mußten mit den Tränen kämpfen.“ Das Kollektiv übte sich auch in Selbstkritik. Es habe am Abend des 16.Dezember 1988, am Todestag des letzten Kindes, gelacht und getrunken, „als das kleine Mädchen starb“. Der Vater, Manfred F., feierte mit, während seine jüngste Tochter in der Wäschekiste des elterlichen Schlafzimmers erstickte. Der Mann, der fleißig, bescheiden, arbeitsam und verschlossen gewesen sei, habe sich zu den Taten hinreißen lassen, „obwohl ihn Angst und Skrupel plagten“.

Seine Frau Margitta F., die nur wenige Wochen in der Firma arbeitete, sei, wissen die KollegInnen, „fast scheu“ gewesen und habe „ungepflegt ausgesehen“. Besonders empörten sich die Kolleginnen aus dem Putzkollektiv über die neue Reinigungskraft, weil sie im November 1988 heftig abgestritten habe, schwanger zu sein und im Januar 1989 „rank und schlank“ wieder zur Arbeit kam - „als sei nichts geschehen“. Sie habe „aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit“ gehandelt. „Ein schlimmeres Verbrechen kann es nicht geben!“

Staatsanwalt Wilmar Bohmeier läßt ein sehr verhaltenes, sachliches Plädoyer folgen. Er sammelt sorgfältig ein, was für die beiden Angeklagten spricht, vor allem nennt er ihr umfangreiches Geständnis. Er wehrt sich dagegen, über das Leben der Familie F. zu rechten, selbst wenn es möglicherweise „nicht einem Durchschnittsbürger unseres Landes entspricht“. Das gelte auch für den Schnapsverbrauch und das „Geselligkeitsbedürfnis“ der F's. Das Ehepaar F. habe sich, mit seinen fünf lebenden Kindern, in der Gesellschaft auf seine Weise eingerichtet: „Beide waren glücklich und zufrieden.“ Sie hatten sich auch, und da stützt er sich auf die Zeuginnen aus der Nachbarschaft, sehr wohl um diese Kinder gekümmert und nicht versucht - wie andere DDR-Eltern - die Kinder abzuschieben.

Ein deutliches Wort sprach Bohmeier auch in Richtung Sensationspresse, die sich auf wirre Aussagen des mittlerweile 19jährigen Sohnes, Mirko F., gestürzt hatte. Der Junge, zur Tatzeit 16 Jahre alt, war 1988 von der Mutter zur Geburt gerufen worden und hatte das Kind auf ihre Anweisung hin, wie der Vater in den vier vorangegangenen Jahren, in eine Decke eingeschlagen und in der Wäschekiste verstaut. Er war der Treibjagd durch Nachbarschaft und Boulevard-Presse ebensowenig gewachsen wie seinen realen Erlebnissen. Mit einer Stopfnadel habe er das Neugeborene auf Anweisung seiner Mutter in den Kopf gestochen. Außerdem sei das Kind von ihm gewesen, er habe regelmäßig mit seiner Mutter geschlafen.

Staatsanwalt Bohmeier zog ein Resümee dieser Aussagen, die Mirko F. im Gerichtssaal auf eindringliches Befragen wieder zurückgenommen hatte: „Warum er das machte, vermag ich nicht zu sagen.“ Bohmeier revidierte auch seine Anklage, in der er Margitta F. mehrfachen Mord vorgeworfen hatte. Er forderte ihre Verurteilung nach Paragraph 113 der DDR, der die Kindstötung während und kurz nach der Geburt als Totschlag wertet. Darin ist eine Höchststrafe von zehn Jahren Haft vorgesehen. Sie habe auch zum Mord angestiftet. Darum sei sie zu insgesamt 15 Jahren Gefängnis zu verurteilen. Für ihren Ehemann verlangte Bohmeier die gleiche Haftstrafe. Obwohl bei Manfred F. „Grenzdebilität, Indolenz und Durchsetzungsschwäche“ festzustellen seien, müsse er ebenso verurteilt werden.

Ein wenig Licht in das Dunkel der nicht nachvollziehbaren Motive brachten die Aussagen der ZeugInnen am Vortag. Vor allem die Nachbarinnen hatten aus ihren Herzen keine Mördergruben gemacht. Sie beschrieben die Lebensumstände in der Albert-Bartels-Straße 34 in Wernigerode, denen das oft gehörte Adjektiv „asozial“ nicht gerecht wird. Zwei Nachbarinnen hatten jeweils sechs und acht Kinder zur Welt gebracht. In einer Atmosphäre der Enge, der Schichtarbeit, der ebenso offenherzigen wie engstirnigen Geselligkeit lebten sie in einem Alltag und einer Vorstellungswelt, die wohl eher dem Industrieproletariat im 19.Jahrhundert entsprachen.

Der Prozeß hat viele Facetten. Dazu gehört auch die Aussage der Zeugin G., die von Staats wegen kinderreiche Famlien besucht, so auch die F's. Sie weiß nur Schlechtes zu berichten. Besonders wirft sie Frau F. vor, daß sie ihre Kinder nicht regelmäßig in den Kindergarten gebracht habe. Die Kindergärtnerin bewertet dies eher positiv. Familie F. habe wenigstens ab und zu etwas mit den Kindern unternommen.

In der Nachbarschaft und Verwandtschaft waren die fünf Schwangerschaften sehr wohl bemerkt worden. Geredet wurde darüber allerdings kaum. Es wurde sich eben nicht „eingemischt“ und vage angenommen, es habe Fehlgeburten gegeben oder die Kinder seien, „weggegeben“ und adpotiert worden.

Verteidiger Ulrich Wolff wehrte sich für seine Mandantin gegen eine Vorverurteilung. Zum einen müsse sich auch die DDR daran gewöhnen, die Menschen im Privatleben nach ihrer Facon leben zu lassen, zum anderen ließen sich die Kriterien für Wohlanständigkeit nicht bruchlos anderen normierten Vorstellungen anpassen: „Wer ist glücklich? Nur derjenige, der Häuser besitzt?“ „Spärlich aber sauber“, sei die Wohnung der F's gewesen. Dies bestätigte auch der Durchsuchungsbericht der Polizei, der von blitzsauberen Fußböden und ärmlicher Möblierung berichtet. Ansonsten stellten die Fahnder lediglich eine rote Unterhose und zwei Stoffstücke aus dem Ehebett und dem Wäschekorb sicher, fanden im Kinderzimmer ein „lebendes Meerschwein“ und in der Küche „ein Glas Mayonnaise“.

Rechtsanwalt Wolff betonte, daß nichts außer den Geständnissen beweisrelevant sei. Auch in dem Heizkessel im Kurhaus Sennhütte, in dem der Vater einige der Kinder verbrannt hatte, fanden sich keine Spuren. Demzufolge, stellte Wollf ebenso wie die Staatsanwaltschaft fest, sei die Todesursache der Kinder letztlich ungeklärt. Er suchte das Motiv in den Aussagen der Angeklagten, sie habe zum einen „keine Kinder mehr gewollt“, zum anderen „Angst vor Ärzten“ gehabt. Die Nichtversorgung der Kinder nach der Geburt sei „ihr kompletter Tatbeitrag“ gewesen. Alles andere habe sie dann „Dritten“ überlassen. Der Tod der Kinder sei also nicht „die kausale Folge“ der Unterlassung seiner Mandantin gewesen. Dennoch sei sie, sagte Wolff, nicht Anstifterin, sondern im Sinne des Paragraphen 113, „selber Täterin“ gewesen. Er sah das Strafmaß für Margitta F. wegen „versuchten Totschlags“ „im oberen Teil des 113“ angesiedelt.

Der Verteidiger von Manfred F., RA Klaus Stiebing, gab dem Gericht die Höhe der Strafe anheim. Er stellte sich die Frage, ob sein Mandant „in dem Säugling überhaupt einen Menschen gesehen hat, dem man helfen muß?“ Der Mann sei, „überrollt“ von seiner Ehefrau, „eigentlich von einer Entbindung in die andere gestolpert“. Vollendeter Mord brauche einen „konkreten Nachweis“. Hier sei „im Zweifel“ zugunsten des Angeklagten zu entscheiden und in vier Fällen wegen versuchten Mordes und in einem wegen der Vorbereitung zur Tat, von der er, auch wenn sein Sohn sie ausgeführt habe, wußte.

Manfred und Margitta F. folgten der - im ganzen fairen Verhandlung mit tief gesenkten Köpfen. Beide seien, hatten ihre Anwälte gesagt, erst jetzt in der Lage, das Unrecht ihres Handelns einzusehen. Das Urteil wird Montag verkündet.