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Der Aufstand in der Stalinallee

■ Dokumente aus dem Zentralen Gewerkschaftsarchiv des FDGB enthüllen, wie die Gewerkschaft der aufständischen Bauarbeiter nach dem 17. Juni 1953 an die Kandare genommen wurde. Der Artikel fußt auf einem Manuskript von Wolfgang Eckelmann, Hans-Hermann Hertle und Rainer Weinert. Eckelmann ist Abteilungsleiter im FDGB, Hertle und Weinert sind Gewerkschaftssoziologen an der FU Berlin und Autoren des Buches „FDGB intern“, das im Herbst erscheint.

Am 16. Juni 1953 waren die Kollegen Bruno Sommerer und Artur Liebenau abgeordnet, mit den Bauarbeitern von der Stalinallee zu diskutieren. Die beiden Funktionäre der Abteilung Kultur und Schulung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) für Groß-Berlin begaben sich zum Hochhaus Strausberger Platz und zum Block 40 jener Ostberliner Prachtstraße, die Anfang der 50er Jahre zum Ruhm des Sozialismus hochgezogen wurde. Denn ausgerechnet hier hatte der Arbeiteraufstand seinen Ausgangspunkt genommen: zunächst als Protest gegen Normerhöhungen und schlechte Arbeitsbedingungen, schließlich als Aufstand gegen die nach dem Krieg errichtete, selbsternannte „Arbeiter- und Bauernmacht“.

Was die beiden Gewerkschaftsfunktionäre am 16. Juni von ihrem Besuch an der Basis erzählten, war nicht gerade erfreulich für die Spitzenfunktionäre des FDGB: Es herrsche im allgemeinen Ruhe auf der Baustelle, nur durch die Zimmererbrigade seien „Komplikationen“ zu befürchten. Auf der Brigadeversammlung, so berichteten die beiden, war die Situation zunächst so, „daß wir die Versammlung fest in den Händen hatten“. Doch „um 10.40 Uhr bemerkten wir durch die Fenster der Baubude einen anmarschierenden Demonstrationszug“, heißt es in dem schriftlichen Bericht. „Als die Kollegen den Demonstrationszug bemerkten, sprangen sie alle auf, und mit den Rufen 'Heraus zur Demonstration, übt Solidarität‘ schlossen sie sich der Demonstration an.“

Waren die Forderungen der Bauarbeiter am 16. Juni noch weitgehend gegen die als ungerecht empfundene Normerhöhung gerichtet, politisierte sich der Protest schon am nächsten Tag. Nach einem Bericht des Kollegen Nohr, einem Mitarbeiter der Abteilung Organisation des FGDB-Bundesvorstandes, riefen Demonstranten FDGB-Mitarbeitern vor dem Gewerkschaftshaus Unter den Linden zu: „Kümmert euch um unsere Interessen, sonst ist es aus mit euch!“ Politische Parolen werden in dem Dokument voller Abscheu zitiert: „Es hat alles keinen Zweck, der Spitzbart (Ulbricht, d. Red.) muß weg“ - „Wir fordern freie Wahlen“. Die aggressive Stimmung gegen Parteifunktionäre wird erwähnt, das Abbrennen einer Baubude.

Aber der Kollege Nohr versucht unbeirrt, die Sprachregelung der SED-Führung unters Volk zu bringen: „Als ich ihnen erklärte, daß diese Verbrechen von Agenten, die aus West -Berlin entsandt werden, organisiert wurden und sie die Stimmung der Bauarbeiter gegen die Interessen der Arbeiter ausnutzen, gaben mir die meisten recht.“

Was aus dem „Kollegen“ Nohr später geworden ist, geht aus den der taz vorliegenden Dokumenten aus dem Zentralen Archiv des FDGB nicht hervor. Besser belegt ist die Geschichte des Kollegen Franz Jahn, damals erster Vorsitzender des Zentralvorstandes der IG Bau-Holz im FDGB, in der auch die Bauarbeiter an der Stalinallee organisiert waren (siehe Dokumentation). Der Baugewerkschaft war natürlich nicht entgangen, daß es seit Anfang Juni in den Betrieben und auf den Baustellen rumorte. Im April hatte die Staatsführung die Preise hinaufgesetzt, Mitte Mai die Normen um mindestens zehn Prozent erhöht. Insgesamt liefen die Maßnahmen auf eine Kürzung der Monatseinkommen um ein Drittel hinaus.

Die Proteste häuften sich überall in der Republik. Erschreckt nahmen Politbüro und Ministerrat die Preiserhöhungen Anfang Juni zurück. Aber die Normerhöhung blieb, und der stellvertretende FDGB-Vorsitzende erdreistete sich noch am 16. Juni in der Gewerkschaftszeitung 'Tribüne‘, die Maßnahme als „in vollem Umfang richtig“ zu verteidigen.

Die gewaltsame Niederschlagung des Arbeiteraufstandes forderte nach Angaben des Ministers für Staatssicherheit 25 Tote und 378 Verletzte. Die wirklichen Zahlen liegen sehr viel höher. Die SED hatte mit Hilfe sowjetischer Panzer ihre „Arbeiter- und Bauernmacht“ gerettet. Was danach kam, war finstere stalinistische Nacht. Die FDGB-Dokumente belegen, daß nicht nur in der SED die letzten Ab- und Aufweichler auf Linie gebracht oder entmachtet wurden, sondern auch im Gewerkschaftsbund FDGB.

Schon in den Jahren zuvor war die Umfunktionierung des FDGB zum Erfüllungsgehilfen der SED weitgehend gelungen. Aber es gab immer noch Widerstände in einzelnen Gewerkschaften, von ehemals sozialdemokratischen oder linkssozialistischen Funktionären, die ihre kleinen selbständigen Spielräume zu verteidigen suchten und das Mandat unmittelbarer Vertretung von Arbeiterinteressen nicht vollständig der SED -Staatsideologie opfern wollten. Einer dieser Gewerkschaftsfunktionäre war offenbar Franz Jahn, der Vorsitzende der Bauarbeitergewerkschaft.

In einem Beschluß vom 8. Juli 1953, nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes, versuchte die Bau -Gewerkschaft, „unter Berücksichtigung der berechtigten Forderungen der Kollegen aus den Betrieben“ auf den Baustellen wieder Boden unter die Füße zu bekommen. In einer Vielzahl von Einzelforderungen (natürlich „zur Unterstützung der Maßnahmen unserer Regierung“ aufgestellt) wird eine Verbesserung der Arbeitssituation verlangt und um die Unterstützung der Bauarbeiter geworben: Nur „wenn alle gewerkschaftlichen Organe, von Zentralvorstand bis zur letzten Gewerkschaftsgruppe, an ihrer Verwirklichung mitarbeiten und alle Kollegen Bau-, Holz- und Steinarbeiter sich fest um ihre Organisation scharen“, könnten die Forderungen „verwirklicht“ werden, heißt es in dem Beschlußprotokoll des Zentralvorstandes.

Das war Anfang Juli, unmittelbar nach dem Aufstand. Aber schon wenig später war klar, daß dies die letzte Regung der Baugewerkschaft für eine wenigstens begrenzte Eigenständigkeit gewesen war. Denn natürlich war die Führung dieser Gewerkschaft besonders ins Visier der Stalinisten in SED und FDGB geraten. Am 27. August nahm eine Kommission des Präsidiums des FDGB-Bundesvorstandes ihre Arbeit auf, um das Verhalten der Führung der Baugewerkschaft im Zusammenhang mit dem 17. Juni zu untersuchen. Auf der Anklagebank saß insbesondere der Vorsitzende Franz Jahn, ein überzeugter Sozialist, der SED, der FDGB-Führung und dem „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ treu ergeben.

Der FDGB-Vorstand hatte schon Mitte August in einem Beschluß klargemacht, daß jetzt in den Gewerkschaften aufgeräumt werden sollte: „Während die überwiegende Mehrheit der Gewerkschaftsfunktionäre unbeirrt die Interessen der Arbeiterklasse vertrat, gab es in einigen Gewerkschaftsleitungen kleinbürgerliche Schwankungen, kapitulantenhafte, opportunistische Stimmungen und feindliche Handlungen. In die Gewerkschaftsleitungen eingedrungene Feinde stellten sich an die Spitze der Provokation... Das Zurückweichen mancher Leitungen zeigte sich auch im Ausweichen prinzipieller Aufklärung und Festigung des Staatsbewußtseins und in der Beschränkung der Argumentation auf wirtschaftliche Fragen. Manche Leitungen haben die Aufstellung von gewerkschafts-, partei- und staatsfeindlichen soge

nannten 'Forderungsprogrammen‘ geduldet und diese zum Teil sogar unterstützt.“

Wer gemeint war, war klar: vor allem die Führung der IG Bau/Holz und deren Vorsitzender Franz Jahn. Dieser war, wie die Untersuchungskommission dann wenig später feststellte, „in hohem Maße auf die Position des Sozialdemokratismus geraten“ und hatte „eine solche Atmosphäre auch im Sekretariat verbreitet“. Kein Wunder, denn Jahns politisches Vorleben mußte das Mißtrauen der hartgesottenen Stalinisten erregen: Er habe, so heißt es im Untersuchungsbericht, seine hohe Allgemeinbildung „in den Jahren 1932-1934 auf der bürgerlichen Universität in Leipzig erworben“. Es sei zu beachten, „daß Franz Jahn 1933 ein führender Funktionär der sozialdemokratischen Jugend war, bei der Gründung der SAP (eine linkssozialistische Abspaltung der SPD, A.d.R.) in Sachsen mitwirkte und in der SAP eine führende Funktion ausübte.“ Schlußfolgerung der Kommission: Jahn habe „den Sozialdemokratismus heute noch nicht abgelegt“.

Kein Wunder, daß es „im Sekretariat des Zentralvorstandes der IG Bau-Holz keine richtige Einschätzung des Charakters des 17.Juni gegeben hat“. Der war nach stalinistischer Lesart eine faschistische Provokation. Anstatt Forderungskataloge aufzustellen, hätte sich die Führung der Bauarbeitergewerkschaft „auf den Kampf gegen die faschistische Untergrundorganisation und gegen die Provokateure und Agenten“ konzentrieren sollen. Es gehört zum Grundbestand stalinistischer Prozeßführung, den Angeschuldigten durch aufgezwungene „Selbstkritik“ das Rückgrat zu brechen. Und so gab Franz Jahn bei seiner Anhörung durch das FDGB-Präsidium am 29.September 1953 reuevoll zu Protokoll, bei dem nach dem 17.Juni aufgestellten Forderungsprogramm handle es sich um einen „groben politischen Fehler“, ein „echtes Abweichen in den Ökonomismus und das Nurgewerkschaftertum“. Er bat zerknirscht um „weitere Hilfe“ der FDGB-Spitze.

Die kam anders als er sie sich vielleicht noch erhofft hatte. In einer Sitzung des Zentralvorstandes des FDGB wurde über den „17.Juni und die Fehler der Leitung der IG Bau -Holz“ entschieden. Die habe sich praktisch „zu einer Opposition, die gegen den Bundesvorstand und gegen unsere Regierung auftrat“, formiert. Jahn wurde seiner gewerkschaftlichen Funktionen entbunden und in den Betrieb zurückversetzt. Partei, Staat und FDGB-Spitze nutzten die Situation, um ein Exempel zu statuieren: Allen Funktionären in den Einzelgewerkschaften wurden unmißverständlich die Grenzen gewerkschaftlicher Tätigkeit aufgezeigt. Schließlich wurde den Einzelgewerkschaften auf dem FDGB-Kongreß im Juni 1955 das Recht auf eigene Satzung entzogen. Die Formierung der Gewerkschaften zur zentralistisch-stalinistischen Organisation, zum Transmissionsriemen der Partei, war vollendet.

Martin Kempe

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