: Fußball als Großbild-Jagd
■ Jeder glotzt für sich allein: Zur Dialektik der WM-Rezeption am Fernsehschirm
Damals in Argentinien war Gerd meistens der erste. Gerd brachte entweder eine Kiste Bier mit oder zwei Flaschen Mineralwasser,
was für Eingeweihte Rückschlüsse auf seine jeweilige stimmungsmäßige Grundbefindlichkeit zuließ. Bier hieß, frei übersetzt, so viel wie: Alles in Ordnung. Mineralwasser signalisierte akuten Liebeskummer. Gerd hatte, wenn ich mich recht erinnere, während der WM 76 ziemlich oft Liebeskummer.
Bei Bier verhielt sich die Lage komplizierter: Als von der Zentralvergabe für Studienplätze wider Willen nach Bremen verschlagener Borussia-Dortmund-Fan bestand Gerd bei fußballerischen Höhepunkten im Prinzip auf „Kronen-Pils“, das er den regelmäßigen Heimat-Wochenenden kistenweise im Kofferraum mitzubringen pflegte. Ganze Halbzeiten konnte Gerd mit philosophischen Exkursen über die Mittelmäßigkeit norddeutschen Bieres im besonderen und die Mittelmäßigkeit der Norddeutschen im allgemeinen unter besonderer Berücksichtigung ihrer mangelnden Trinkfestigkeit verbringen. Daß Höttges in Gerds fußballerischem Weltbild nur als Katastrophe vorkam, während spätestens nach dem fünften „Kronen“ wehmütige Elogen auf Emmerichs „linke Klebe“ fällig waren, verstand sich bei Gerds vorurteilsgeladenem Lokalpatriotismus von selbst. Man tolerierte das und bot Gerd noch ein Kronen gegens Heimweh an.
Als nächster kam in der Regel Achim. Für Achim waren auch Fußballveranstaltungen vor allem Prüfsteine analytisch -intellektueller Fähigkeiten. Seine Kommentare - und Achim argumentierte mit mühsam zurückgehaltener Empörung ununterbrochen gegen den Fernsehton an - waren im Grunde Fälle für BKA und Generalbundesanwaltschaft. Zusammengefaßt ließen sie sich nach 90 Minuten gut und gern als ideologische Vorbereitung von Anschlägen auf Jupp Derwall, Herman Neuberger oder Rudi Michel (miß)verstehen.
Ulli und Axel kamen meist erst Mitte der ersten Halbzeit. Im Grunde interesssierten sie sich nicht für Fußball. Als Psychologiestudenten interessierten sie sich dafür, wie sich Intellektuelle für Fußball interessierten. Oder aber der heimische WG-Einkausdienst hatte versagt, das Brot war alle, die Bierkiste leer. Wie auch immer - zwischen konspirativen politischen Zirkel-Sitzungen und Kneipenbesuch im Türken wurde auf meiner braunen Samtdecke der Fußballweltmeister ermittelt. Fußball - 1976 war das noch heimlicher Katalysator beim Sturz der Bourgeoisie. Und braune Samtdecken und Hochbetten mit Schwarzweiß-Portable gab es 1976 noch viele in Bremen. Heute, so scheint es, hat der Fußball seine öffentlichkeits stiftende Funktionverloren. Tausende von Samtdek-ken haben abgedankt zugunsten versprengter Großbildleinwände, auf die fußballbegeisterte, geschäftstüchtige oder nostalgische Wirte - genau läßt sich das nicht ermitteln, wahrscheinlich handelt es sich um eine Mischung - umsatzfördernd die Doppelpässe zwischen Bein und Klinsmann projizieren lassen. An der radikalen Struktur-Veränderung in WM-Rezeption ändert dieser Abglanz einstiger kollektiver Öffentlichkeit nichts: Ob vor heimischer Glotze oder im Kreis zufälliger Kneipenbesucher: Jeder guckt für sich allein. Einsame in der Masse, individuell ausgesetzt Dieter Kürtens „Au, Mann, das is‘ er“ oder Kalle Rummenigges Analyse des „fußball -deutschen Waffenarsenals“ („Die linke Seite mit Brehme ist unsere stärkste Waffe“): Unter Dutzenden von Großbild-Jägern kein kritischer Gegenkommentar. Der oberflächliche Eindruck der Interessen-Identität vor den zwei Quadratmetern Leinwand -Grün im Bierzelt trügt: In Wahrheit zerfällt die 50-Seelen -Gemeinde in Dutzende Teil-Intimitäten: Lauter halblaute Fachsimpeler.
Prost Gerd, hol Dir noch'n „Kronen“! Auf die alten Zeiten. Alter, was machen wir bloß, wenn wir Weltmeister werden.
K.S.
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