Deutschland einig Arbeitsrecht?

■ Wiedervereinigung und Sozialpolitik

Rolf Geffken

Das Arbeitsrecht der DDR schränkt die Mobilität der Arbeitskräfte erheblich ein. Individuelle Bedürfnisse und Interessen waren bislang dem gesamtgesellschaftlichen Interesse sogenannter Volkswirtschaftspläne untergeordnet. Andererseits bewirkte das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln die Wirksamkeit des Schutzes vor Entlassungen, weil Kündigungen - auch im Wege des Aufhebungsvertrages - praktisch nur beim Angebot einer anderweitigen zumutbaren Beschäftigung möglich waren bzw. zur Zeit immer noch nur möglich sind.

Demgegenüber ändert das Arbeitsrecht der Bundesrepublik nichts an der grundsätzlichen Mobilität der Arbeitskräfte in dem „marktwirtschaftlichen“ System. Im Gegenteil: Der sogenannte „Kündigungsschutz“ soll individuell zwar vor Kündigungen schützen, tatsächlich aber sie nicht gesamtgesellschaftlich einschränken. Untersuchungen haben gezeigt, daß einschließlich der „erfolgreichen“ Kündigungsschutzprozesse nur etwa fünf Prozent aller arbeitsgerichtlichen Verfahren mit der Rückkehr des gekündigten Arbeitnehmers in seinen Betrieb enden. In 95 Prozent aller Fälle wird also die Kündigung vom Ergebnis her bestätigt. Der Preis der Entlassung variiert zwar, die Entlassung selbst aber wird nur geringfügig sanktioniert. Insofern unterscheidet sich dieses System auch nur geringfügig von den anders gearteten Kündigungssystemen zum Beispiel in anderen EG-Staaten, wo die Kündigung maximal nur eine Schadensersatzpflicht auslöst: Tatsächlich kommt die Abfindung einer Schadensersatzforderung gleich. Der Titel ist ein anderer. Das Ergebnis ist dasselbe: die Entlassung. Und zwar nicht nur die individuelle Entlassung, sondern die Entlassung und damit die Mobilität der Arbeitskräfte als System. (Wobei die Möglichkeit der Entlassung Druck auf die „Arbeitskräfte“ ausübt und sie so diszipliniert. Auch dies ist systemimmanent. d.S.)

In bestimmtem Rahmen haben sich ökonomische Erfordernisse auch auf die Entwicklung des DDR-Arbeitsrechts ausgewirkt. So wurde zum Beispiel insbesondere in den letzten Jahren der Begriff der „Zumutbarkeit“ bei dem Angebot eines anderen Beschäftigungsverhältnisses erheblich ausgeweitet und damit zu Lasten von Arbeitnehmern praktiziert. An dem Grundsatz eines Arbeitsplatzschutzes im Sinne eines Vorrangs von Individualinteressen vor dem betrieblichen Interesse änderte sich dadurch zwar nichts. Eine faktische Durchlöcherung des Grundsatzes des Gesetzbuches der Arbeit der DDR durch Weiterentwicklung entsprechender Begriffe wäre damit aber nicht ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß im politischen Bereich die Funktionsfähigkeit von Berufsverboten in der DDR -Volkswirtschaft erprobt war. Unterschiede der Regelungsarten

Ich habe es in meiner langjährigen Praxis arbeitsrechtlicher Beratung immer wieder erlebt, daß Arbeitnehmer auf die Frage, wo denn ein bestimmtes Recht festgehalten sei, erklärten: „Na, im Tarif, wo denn sonst?“ Auf die Frage, in welchem Tarifvertrag und woher man wisse, daß dieser überhaupt für das Arbeitsverhältnis gelte, erhielt ich ebenso oft nur die Reaktion eines verdutzten Staunens. Warum?

Das bundesdeutsche Arbeitsrecht findet sich verstreut in den unterschiedlichsten Gesetzen, Verordnungen und Teilregelungen. Insoweit unterscheidet es sich bereits erheblich von dem Arbeitsrecht der DDR, weil es nämlich kein einheitliches Gesetzbuch der Arbeit kennt.

Andererseits ist mit den wesentlichen Teilgesetzen des Arbeitsrechts, wie zum Beispiel dem Kündigungsschutzgesetz, dem Mindesturlaubsgesetz oder der Arbeitszeitordnung der Sache nach für eine Vielzahl (teilweise sogar für die große Mehrzahl) der Arbeitnehmer nichts oder nur Unwesentliches geregelt. Warum? Gegenüber dem Kündigungsschutzgesetz finden sich in zahlreichen Tarifverträgen (zum Beispiel Bundesangestelltentarifvertrag für den öffentlichen Dienst oder aber in den Manteltarifverträgen für die Metallindustrie) erweiterte Kündigungsschutzregelungen, insbesondere für ältere Arbeitnehmer. Diese tarifvertraglichen Regelungen gehen über das Kündigungsschutzgesetz hinaus. Sie gelten zwar nicht unbedingt für die Mehrzahl der Arbeitnehmer, setzen aber für künftige Arbeitsrechtsentwicklungen auf jeden Fall erhebliche Maßstäbe. In der Mehrzahl der Tarifverträge ist zum Beispiel das Schriftformerfordernis für Kündigungen festgehalten. Das Kündigungsschutzgesetz sagt hierzu nichts aus. Kündigungen können daher grundsätzlich auch mündlich ausgesprochen werden (ganz im Gegensatz zum Gesetzbuch der Arbeit der DDR).

Das Mindesturlaubsgesetz enthält nur die Garantie eines jährlichen Erholungsurlaubs von 18 Werktagen (!), der in der Realität der bundesdeutschen Arbeitswelt praktisch nicht mehr existiert. Insoweit also ist die Substanz dieses Gesetzes bereits längst durch die soziale Entwicklung überholt, wobei als Schrittmacher tarifvertragliche Regelungen fungierten und fungieren. Noch extremer verhält es sich mit der Arbeitszeitordnung, die, aus der Nazizeit stammend, von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden (!) ausgeht, obwohl die IG Metall bereits konkrete Auseinandersetzungen für die Einführung der 35-Stunden-Woche geführt hat.

Der Gesetzgeber ist den arbeitsrechtlichen Entwicklungen im Tarifvertragsbereich regelmäßig „hinterhergelaufen“. Gesetzgeberische Maßnahmen, die über tarifvertragliche Vereinbarungen hinausgingen bzw. hinausgehen, waren und sind in der bundesdeutschen Arbeitsrechtslandschaft die Ausnahme.

Dies bedeutet: Motor arbeitsrechtlicher Entwicklung waren und sind die Tarifverträge. Grundvoraussetzung der Entwicklung und Entfaltung individueller Schutzbestimmungen des Arbeitsrechts war also die Tarifautonomie, ausgefüllt durch die jeweilige Kampfkraft der Gewerkschaften.

Dies ist ein wesentlicher Hinweis an die Adresse der Gewerkschaften bzw. Betriebsräte in der DDR, da diese entsprechende Erfahrungen aus ihrer Arbeitsrechtsentwicklung nicht kennen und daher ganz entscheidend auf die Entfaltung ihrer eigenen Kampfkraft angewiesen sind. Eigene Kampfkraft heißt aber auch nicht die Kampfkraft bundesdeutscher Gewerkschaften als eine Art Stellvertreterkampf, sondern die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Potentiale.

Konkret bedeutet dies zum Beispiel: Das Beklagen mangelnder Bereitschaft des bundesdeutschen oder des DDR-Gesetzgebers Besitzstände des Gesetzbuches der Arbeit in der DDR zu sichern, nützt wenig, wenn im politischen Bereich keine oder unzureichende Aktivitäten entwickelt werden. An die Stelle oder mindestens neben den Adressaten Gesetzgeber tritt und muß treten der Unternehmerverband bzw. der Großbetrieb oder bestimmte wirtschaftliche Branchen. Ziel muß die Durchsetzung und Sicherung bestimmter Mindestrechte auf dem Weg von Tarifverträgen sein. Damit werden zusätzliche Disparitäten verbunden sein. Das heißt: Im ersten Anlauf wird damit der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht nur nicht verwirklicht, sondern sogar in Frage gestellt. Andererseits gilt: Auslösendes Moment von Arbeitskämpfen war und ist gerade in der Bundesrepublik das Bestehen von Lohndisparitäten und das Bestreben um Angleichung „nach oben“. Auch insoweit wäre also die Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ein Verharren in statischer Denkweise, die die ganze Dynamik sich entfaltender gewerkschaftlicher Potentiale außer acht läßt. Im übrigen gibt es für die Gewerkschaften in der DDR keinen anderen Weg. Es ist dies die einzige Möglichkeit, arbeitsrechtliche Positionen mittelfristig und auch langfristig zu sichern. Anhaltspunkte dafür, daß ausgerechnet der jetzige Gesetzgeber der DDR ein höheres Maß an Bereitschaft zur Sicherung sozialer Besitzstände besitzt, existieren nicht.

Wie wenig ausgeprägt die Bereitschaft des bundesdeutschen Gesetzgebers zur Sicherung sozialer Rechte ist, ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß die bundesdeutschen Gewerkschaften in Fortführung einer „Erbschaft“ der deutschen Gewerkschaften bereits seit 1919 bzw. seit 1949 vergeblich die Schaffung eines einheitlichen Gesetzbuches verlangen. Dieser „bloß“ formale Akt in der Schaffung eines einheitlichen Gesetzbuches, der „nur“ den Vorteil einer Vereinfachung und größeren Überschaubarkeit eines Gesetzes hätte und damit „allenfalls“ der individuellen Wahrnehmung von Rechten entgegenkäme, blieb dem DDR-Gesetzgeber überlassen. Wenn bereits die Kraft zu einem solchen historischen Schritt dem bundesdeutschen Gesetzgeber gefehlt hat, dann mag man beiderseits der Elbe sich ausrechnen können, mit welchen weiteren gesetzgeberischen Akten zu rechnen sein wird.

Selbst wenn aber das DDR-Arbeitsrecht in weiten Teilen bestehen bliebe, so könnte sich auf eine kuriose Art und Weise eine bestimmte Art der „Portugalisierung“ der DDR ergeben. Mit diesem Begriff wird im Rahmen der Diskussion über den EG-Binnenmarkt immer wieder behauptet, es würde eine Nivellierung sozialer Rechtspositionen in der Bundesrepublik in Richtung Südeuropa stattfinden, wobei Portugal als besonders negatives Beispiel gilt. Tatsächlich ist diese Formulierung demagogischer Art und nur zum Teil richtig. Das Paradoxon ist nämlich, daß Portugal das fortschrittlichste Arbeitsrecht aller EG-Staaten, möglicherweise sogar in der gesamten Welt besitzt, andererseits aber ein außerordentlich niedrig entwickeltes Produktionsniveau mit entsprechend niedrigen Löhnen hat. Nur wenige „Öffnungsklauseln“ im jetzigen DDR-Arbeitsrecht (z.B. die Möglichkeit einzelvertraglicher Vereinbarungen des bundesdeutschen Arbeitsrechts) würde daher einer tatsächlichen Nivellierung Tür und Tor öffnen, ohne daß auch nur ein einziger Federstrich das DDR-Arbeitsrecht verändert hätte. Genau wie in Portugal würde die DDR weiterhin das „fortschrittliche“ Arbeitsrecht besitzen, zugleich aber nicht mehr über die materielle Wirksamkeit dieses Rechts verfügen. Auch andere Arten der Umgehung und des Unterlaufens des DDR-Arbeitsrechts sind denkbar, und seien sie nur ökonomischer Natur, zum Beispiel auf dem Wege der Kompensation durch Lohnerhöhungen oder durch die Beseitigung des zwingenden Charakters bestimmter Rechtsvorschriften (einzelvertragliche Dispositionsfreiheit).

Bereits insoweit erweist sich das „Refugium DDR“ als außerordentlich gefährdet und dürfte wahrscheinlich bereits nach kurzer Zeit nur noch auf dem Papier bestehen. Offene Wirtschaftszone DDR?

Realistischer erscheint folgendes: Das besondere Interesse bundesdeutscher Wirtschaftskreise gilt nicht so sehr einer abstrakten Wiedervereinigung, sondern den wirtschaftlichen Möglichkeiten in der DDR unter den gegenwärtigen und möglicherweise mittelfristig sich entwickelnden Verhältnissen. Nicht zufällig wurde bereits deshalb von Unternehmerseite aus die Frage gestellt, ob nicht in der DDR ein anderes (vereinfachtes) Steuerrecht gelten solle. Unter diesen Vorzeichen ergibt sich für den Prozeß der Neuvereinigung beider deutscher Staaten eine völlig neue Variante: das mögliche ökonomische (und politische) Interesse an einem Fortbestand des DDR-Territoriums im Sinne einer „offenen Wirtschaftszone“. Solche Ideen wurden innerhalb der EG bereits ansatzweise verwirklicht, so zum Beispiel in Vigo/Spanien und Shannon/Irland. Sie befinden sich auch in der Diskussion im bezug auf die sogenannten Freihäfen. Verbunden mit diesen sogenannten offenen Wirtschaftszonen ist zunächst immer die Vorstellung einer Freistellung von steuer- oder zollrechtlichen Vorschriften. Darüber hinaus dann aber auch die Vorstellung einer Befreiung von arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen. Realisiert wurde ein solches Modell für die Bundesrepublik bereits durch das sogenannte „Internationale Seeschiffahrtsregister“, das auf die Anwendbarkeit ausländischen Arbeitsrechts auf bundesdeutschem Territorium hinausläuft. Dieses sogenannte ausländische Arbeitsrecht ist dann faktisch ein rechtsfreier Raum, weil es sich um arbeitsrechtliche Regelungen aus Ländern der Dritten Welt handelt, die faktisch nicht sanktioniert sind.

Offenbar ist die vor uns liegende Perspektive eine Mischung von vorübergehendem „Refugium“, d.h. einem Restbesitzstand sozialer Schutzrechte in der DDR, dem Unterlaufen dieses Besitzstandes durch einige wenige Übergangsvorschriften und dem starken Interesse an einer weitergehenden offenen Wirtschaftszone. Die Realisierung eines solchen Modells ist jedoch nur dann möglich, wenn es den DDR-Gewerkschaften nicht gelingt, innerhalb kürzester Zeit ein Potential zur Verteidigung der Interessen der arbeitenden Bevölkerung der DDR zu entwickeln, das solchen Perspektiven und Modellen gewachsen ist. Der bundesdeutsche Gesetzgeber wird ebensowenig behilflich sein können wie die bundesdeutschen Gewerkschaften.

Allerdings gibt es durchaus Chancen und Perspektiven der DDR-Gewerkschaftsbewegung, wenn und soweit diese beispielsweise im Rahmen einer Betriebsverfassung über den Weg von Öffnungsklauseln gesetzliche Mindestrechte tarifvertraglich absichern bzw. erkämpfen kann. Forderungen für solche Rechtspositionen müssen nicht lange gesucht werden. Theoretisch könnten sie bereits in dem bloßen Abschreiben bestimmter Partien des Gesetzbuches der Arbeit der DDR liegen. Das Ergebnis wäre voraussichtlich allerdings wesentlich minimaler, denn selbst den weitaus kampfstärkeren bundesdeutschen Gewerkschaften blieben solche Rechte bisher verwehrt.