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Britische Justiz im Dauerirrtum

Regierung gesteht einen weiteren „Justizirrtum“ ein / Dieses Mal sind es die „Maguire Seven“ / Neue Hoffnung für die „Birmingham Six“  ■  Aus Dublin Ralf Sotscheck

„Ich habe mir diese Untersuchung nicht angehört, damit Sie mir erzählen, daß ich unschuldig bin“, sagte Patrick Maguire am Wochenende. „Das weiß ich seit 16 Jahren. Ich will wissen, warum Sie das mit uns gemacht haben.“ Die britische Regierung mußte am vergangenen Donnerstag einen weiteren „Justizirrtum“ eingestehen. Innenminister David Waddington erklärte vor dem Londoner Unterhaus, daß die Urteile gegen die „Maguire Seven“ nicht aufrecht erhalten werden können.

Bereits am Vormittag hatte der Generalstaatsanwalt vor dem Maguire-Untersuchungsausschuß erklärt, daß die Verurteilungen „unsicher und unbefriedigend“ seien. Für die Opfer des Justizskandals kommt diese Erkenntnis freilich zu spät: Die sieben irischen EmigrantInnen haben ihre Haftstrafen längst abgesessen.

Der damals 13jährige Patrick Maguire wurde im Dezember 1974 zusammen mit seiner Familie und einem Nachbarn in London verhaftet. Zu dieser Zeit hatte die Bombenkampagne der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in England ihren Höhepunkt erreicht: Mehrere Kneipen in Birmingham, Guildford und Woolwich flogen in die Luft. 26 Menschen wurden dabei getötet, Hunderte verletzt. Die Anschläge lösten eine anti -irische Hysterie aus. Im Eilverfahren verabschiedete daraufhin das britische Parlament ein Sondergesetz mit weitreichenden Vollmachten für die Polizei, das bis heute fast ausschließlich auf IrInnen angewendet wurde.

Für die Anschläge wurden zehn irische Arbeitsemigranten verurteilt: die „Birmingham Six“ und die „Guildford Four“. Gerry Conlon, einer der „Guildford Four“, hatte unter den Mißhandlungen während der Polizeiverhöre „gestanden“, daß er das Bombenbasteln in der Küche seiner Tante Annie Maguire gelernt habe. Am selben Abend wurden alle verhaftet, die sich im Haus der Maguires aufhielten: Annie und ihr Mann Pat, ihre Kinder, ein Schwager, Conlons Vater Guiseppe, der nach London gekommen war, um seinem Sohn einen Anwalt zu besorgen, und ein Nachbar, der seine drei Kinder bei den Maguires abgeben wollte. Abstriche von den Fingerspitzen, die von einem 17jährigen Praktikanten untersucht wurden, wiesen bei drei der Angeklagten und bei einem Paar Küchenhandschuhe winzige Nitroglyzerinspuren auf. Die Verteidigung hält es für möglich, daß die Proben von der Polizei absichtlich kontaminiert wurden. Doch dieser Punkt steht bei der derzeitigen Untersuchung nicht zur Debatte.

Die „Maguire Seven“ wurden einzig aufgrund der „Sprengstoffspuren“ zu Freiheitsstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren verurteilt. Patrick erhielt vier Jahre Jugendhaft. Der schwerkranke Guiseppe Conlon starb 1980 im Gefängnis. Auch als ein Jahr später die Londoner IRA-Einheit gefaßt wurde und die Bombenanschläge gestand, kamen die fälschlich Verurteilten nicht frei. Das Gericht erklärte sie kurzerhand allesamt zu Komplizen. Erst im vergangenen Oktober wurden die „Guildford Four“ nach 15 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, weil nachgewiesen werden konnte, daß die Polizei ihre Geständnisse gefälscht hatte. Damit war auch das Urteil gegen die „Maguire Seven“ diskreditiert. Doch die Untersuchung des Falles, die Anfang Mai begann, brachte weit mehr als einen „Justizirrtum“ ans Tageslicht.

In die Schußlinie ist vor allem das „Royal Armament Research and Development Establishment (RARDE)“, das wissenschaftliche Labor des Verteidigungsministeriums, geraten: RARDE-Mitarbeiter verschwiegen vor Gericht, daß ein zweiter Test bei den Angeklagten zu einem negativen Ergebnis geführt hatte. Sie verheimlichten weiteres Entlastungsmaterial und belogen das Gericht nach Strich und Faden.

Doch Richter Donaldson kann die Schuld keineswegs auf das RARDE- Team abwälzen. Er griff damals immer wieder zugunsten der Anklage in das Verfahren ein und wies die Geschworenen an, die entlastende Aussage eines Wissenschaftlers zu ignorieren. Die Behauptung der Angeklagten, daß sie bei den Polizeiverhören mißhandelt worden seien, konterte Donaldson mit der Frage: „Sehen so Beamte aus, die so etwas tun würden?“

Die haarsträubenden Enthüllungen über die RARDE-Mitarbeiter können weitreichende Konsequenzen haben. Dieselben Wissenschaftler haben nämlich die Untersuchungen durchgeführt, die zur Verurteilung der „Birmingham Six“ führten. Staatsanwalt Neil Butterfield beschwor denn auch am Donnerstag den Leiter der Untersuchung, John May, nicht auf „Fehlverhalten oder Unehrlichkeit“ der drei betreffenden Wissenschaftler zu entscheiden, da das „nicht nur besonders schwere Folgen für die Wissenschaftler, sondern auch für andere Fälle haben würde, an denen RARDE beteiligt war.“

Patrick O'Connor, einer der Verteidiger, sagte dazu: „Butterfield würde wohl auch empfehlen, einen Elefanten in 20 Meter Entfernung zu ignorieren, weil sich hinter dem Hügel eine Herde befinden könnte.“

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