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Verfassungsinitiative institutionalisiert

Kuratorium für ein demokratisch verfaßtes Deutschland im Reichstag gegründet / Für Gleichrangigkeit von Grundgesetz und Verfassungsentwurf des Runden Tisches / Linke soll nicht die Schlachten der Vergangenheit schlagen / Wehmut und viele Erwartungen  ■  Aus Berlin Klaus Hartung

„Ein zu großer Hauch von Wehmut“ liege über dieser Versammlung, klagte Klaus Staeck. Er stand mit dieser Wahrnehmung nicht allein. Das bessere Deutschland, spürbar strapaziert von der Vereinigungswalze, hatte sich am Vorabend der 17.-Juni-Feiern im Zwischengeschoß des Reichstags versammelt, eingestimmt von der milden Melancholie von Mozarts Streichquartett in D-Dur. Die Namen der Anwesenden lasen sich wie aus einem Adressbuch der verlorenen linken Hegemonie. Der zuspätgekommene Realpolitiker Otto Schily stellte denn auch sofort fest, daß sich hier bedenklicherweise zumeist „alte Freunde“ getroffen hätten. Keiner der Versammelten nahm das Wort „historische Stunde“ in den Mund, dennoch war es eher eine historische Stunde als ein Veteranentreffen geschlagener Kämpfer für ein anderes Deutschland. Immerhin geschah es an diesem Samstag zum ersten Mal, daß eine gesamtdeutsche politische Initiative in Geist und Inhalt von der DDR ausging. Bislang sind alle Vereinigungsschritte von der Verwaltungsunion bis zur Parteienunion vom Westen dominiert. Ohne den Verfassungsentwurf des Runden Tisches wäre das Kuratorium sicherlich nicht zustande gekommen.

Daß der Wehmutston seine Gründe hat, machte Gerd Poppe, Vertreter der „Initiative für Demokratie und Menschenrechte“ am Runden Tisch und Volkskammerabgeordneter, deutlich: der Verfassungsentwurf sei „trotz aller Überzeugungsarbeit“ in der Volkskammer gescheitert. Überhaupt wurde an diesem Nachmittag die Volkskammer als besonders abschreckendes Beispiel für die neue deutsche „Verfassungsverweigerung“ (Küchenhoff) zitiert. Einen anderen Grund für die Wehmut beschrieb Günther Grass mit der Formel „Alt-Döbern“. Der Schriftsteller hatte in Alt-Döbern, im Braunkohletagebaugebiet Senftenberg/Lausitz gezeichnet: die Wüstenei von vierzig Jahren Realsozialismus und die „bevorstehende Wüstenei“, die „ein nichtswürdiger Staatsvertrag“ in der DDR schaffen wird. Vorbote für die geistige Wüstenei sei das „Strickedrehen“ von 'FAZ‘ bis 'Zeit‘ gegen Christa Wolf. Wolfgang Ullmann von „Demokratie Jetzt“ nahm das Stichwort auf: „Die deutschen Schriftsteller sitzen am Rande solcher Mondlandschaften und zeichnen oder schweigen wie Christa Wolf.“ Das sei ehrenwert, allein „Politiker sollten etwas tun“. Denn „es gibt jetzt, am Vorabend der Währungsunion, zuviele Leute, die nichts mehr tun können“.

In einer Rede, der man den öffentlichen Resonanzboden der Feiern zum 17. Juni gewünscht hätte, weil sie zu den großen deutschen Reden gehörte, zog Wolfgang Ullmann den Bogen von der DDR-Opposition über den Runden Tisch zu einem Deutschland „in guter Verfassung“. „Die Perspektive des Runden Tisches läßt sich nicht mehr streichen„; sie heiße, „daß keine Seite der anderen den Rücken zukehrt“. Mit anderen Worten: das Links-Rechts-Schema, das nur in der Perspektive des Präsidiums möglich sei, werde transzendiert. Das „Neue Forum“ stehe für eine Erweiterung des Begriffs der Öffentlichkeit; „Demokratie Jetzt“ heiße „praktizierte, direkte, datierte Demokratie“. Und wenn man sich auf die Herbstrevolution beziehe, dann solle man sich erinneren, daß es vor allem eine „Revolution der Frauen“ war. Sie stehen nicht für machtpolitische Erfolge, sondern für „Menschlichkeit“.

Aus diesen Thesen leitete Ullmann die Linie einer Verfassungsdebatte ab: Erstens sollen Bürgerrechte auf den Menschenrechten fußen (im Unterschied zum Grundgesetz); zweitens müßten Menschenrechte als Wirklichkeit und nicht nur als ideale Norm behandelt werden; drittens müsse über die „bloß repräsentative Demokratie hinausgegenagen werden“, weil eine „direkte, datierte, praktizierte Demokratie die Menschenrechte nicht nur repräsentieren“ könne; und viertens: die Gemeinschaft deutscher Länder verlange „ein Staatswesen neuen Typs“. Ullman ging noch einen Schritt weiter und definierte die Nationalität im Sinne von Leopold von Ranke: „Wir wollen das sein, was wir sind, und nicht das, was wir sein möchten.“ Deswegen sollen die trennenden und diskriminierenden Unterschiede zwischen beiden deutschen Ländern verschwinden. „Wenn wir sagen, 'Wir sind das Volk‘, sollen wir es nicht nötig haben, das noch zum ,ein Volk‘ zu steigern.“

Diesen historischen Optimismus hatte die Diskussion nicht. Das zu gründende Kuratorium wurde mit einer Vielfalt von Hoffnungen belastet. Friedrich Schorlemmer, früher DA, heute SPD, wünschte sich, daß „endlich der Widerstand wieder produktiv wird“, so daß aus der „lähmenden Meditiation über abgefahrene Züge heraustritt“. Grass erwartete die sofortige Vorbereitung einer Verfassungsklage gegen den Anschluß nach Artikel 23 und mußte sich von den anwesenden Experten Küchenhoff und Preuß belehren lassen, daß das nach materiellen Recht nicht möglich sei.

Der Bremer Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß, Moderator und Berater am Runden Tisch intervenierte schließlich: Falsch sei es, das Kuratorium dazu zu benutzen, mit der Verfassungsdebatte gegen den Staatsvertrag nachzukarten; falsch sei auch bloße Propaganda für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches - die Linke „sollte nicht die verlorenen Schlachten der Vergangenheit schlagen“. Grundlage sei: „...die Verfassungsdebatte ist notwendig, weil die Vereinigung, das heißt ein neuer Staat in Europa, einen Verfassungskonsens braucht.“ Das war dann auch Konsens und man einigte sich auf die Veröffentlichung des letzten Absatzes eines vorgeschlagenen Aufrufs. In ihm geht es um die Gleichrangigkeit von Grundgesetz und dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches, um eine Verfassungsgebende Versammlung und einen Volksentscheid.

Bei den Worten „Volksentscheid“ und „Gleichrangigkeit“ gab es dann doch die bislang vermiedene Strategiedebatte. Die sozialdemokratischen Volkskammer- und Bundestagsabgeordenten Fischer, Duve und Weißkirchen intervenierten. Sie befürchteten, daß diese Reizworte eine breite Basis für eine Verfassungsinitiative verhindern könnten. Die Debatte blieb unerledigt; die Mehrheit war dafür, politisch eindeutig zu bleiben. Ein Arbeitsausschuß wurde eingesetzt. Das Kuratorium optierte für den Namen „Kuratorium für einen Bund deutscher Länder“. Das kalte Büffet im Ostberliner „Haus der Demokratie“ wartete schon seit eineinhalb Stunden. Ob beim gemeinsamen Mahl das alte Dilemma der Linken zwischen Sozialdemokratismus und Anti-Sozialdemokratismus überwunden werden konnte, diese Frage kann der Berichterstatter leider nicht beantworten.

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