: „Beunruhigender Tatbestand“
Über Versäumnisse der DGB-Gewerkschaften und deren Folgen für die DDR ■ D E B A T T E
Die Bürger der DDR warten zwar bangend, aber entschlossen auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Bürger der Bundesrepublik beginnen zu ahnen, daß diese Vereinigung ihr bisheriges Leben durcheinanderbringt. Aber auch hier traut sich keine gesellschaftliche Kraft die notwendige politische Pause für die breite gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion aller innen- und außenpolitischen Fragen zu ertrotzen. Die Vereinigung läuft nach dem Zusammenbruch der DDR fast „typisch deutsch“ auf dem Verordnungsweg: ein Heer von Büroangestellten aus Ost und West verabschiedet auf unzähligen Sitzungen Tonnen von Papier.
Die Vertretungen der Arbeitnehmer ordnen sich diesem Prozeß unter und machen im Verfahren keine Ausnahme. Nach langem Zögern hat der DGB seine formelle Zusammenarbeit mit dem FDGB gekündigt. Ausschlaggebend waren offensichtlich nicht die völlige Diskreditierung und der undemokratische Charakter der Staatsgewerkschaft der DDR, sondern die Befürchtung des bundesdeutschen Gewerkschaftsbundes, die Kasse des FDGB reiche zur Finanzierung der dort noch beschäftigten Funktionäre nicht aus und der DGB müsse bei einer Vereinigung zuviel eigene Finanzen beisteuern.
Ähnliche Befürchtungen scheinen jetzt auch IG-Metall und ÖTV bewogen zu haben, eine direkte Vereinigung mit den jeweiligen Partnerorganisationen abzulehnen. Die Vereinbarungen, die getroffen wurden, sehen einen Übertritt der Mitglieder der ehemaligen Staatsgewerkschaften in die Gewerkschaften der Bundesrepublik vor. Diese dehnen dabei gleichzeitig ihren Betreuungsbereich in die DDR aus. Wieviele der ehemaligen Funktionäre der DDR-„Gewerkschaften“ dabei übernommen werden, darum wird noch gestritten.
Für die zukünftigen Mitglieder der Gewerkschaften in der DDR wird dies die Folge haben, daß sie in Organisationen eintreten, deren wesentliche Regularien, die Satzungen, bereits feststehen. An ihrer Festlegung Übergangsbestimmungen außer acht gelassen - sind sie nicht beteiligt.
Weiterhin werden den Mitgliedern dieser Gewerkschaften in einem nicht unerheblichen Ausmaß viele ehemalige FDGB -Gewerkschaftsbeamte als rasch umgeschulte gesamtdeutsche Gewerkschaftssekretäre wiederbegegnen. Da der Demokratiebewegung in der DDR ein relevanter Zugang in die Betriebe und den FDGB-Apparat nicht gelang, hat eine Umwandlung von unten und innen nicht stattgefunden.
An dieser Entwicklung sind die bundesdeutschen Gewerkschaften nicht ganz unbeteiligt. Ihre Kontakte in die DDR beschränkten sich in den siebziger und achtziger Jahren auf den FDGB. Die zunächst zarten Pflänzchen einer bis zur „Wende“ bedrohten politischen Gegenkultur in und am Rande der evangelischen Kirche der DDR, wurden - mit der sehr späten Ausnahme GEW - als Gesprächspartner nicht ernst genommen.
Aber auch auf ihrem ureigensten Gebiet, der betrieblichen Politik, respektierten bundesdeutsche Gewerkschafter die Nichteinmischungswünsche ihrer ostdeutschen Kollegen: Kontakte gab es nur auf Spitzenebene, nicht von Kollegen zu Kollegen.
So haben Gewerkschafter der Bundesrepublik bis heute mit einigen Ausnahmen ihren Weg zu den Initiativen, die in der DDR den gewaltfreien Protest organisierten, die Runden Tische ertrotzten, die Stasi auflösten und sogar eine Verfassung ausarbeiteten, nicht gefunden. Die Bürger- und Menschenrechte sind offenbar kein Thema der klassichen bundesdeutschen Gewerkschaftsfraktionen. Die bundesdeutschen Gewerkschaften haben bisher die Chance, den Umbruch in der DDR zu einer Reformdebatte in der Bundesrepublik zu nutzen, nicht ergriffen. Mit diesem Verhalten haben sie sich bereits aus der Auseinandersetzung um die zukünftige innere und äußere Struktur der BRDDR hinauskatapultiert. Ob ihnen die rasche Übernahme der bisher in den Staatsgewerkschaften organisierten Kolleginnen und Kollegen gelingt, bleibt abzuwarten.
Mit einiger Sicherheit kann allerdings vorausgesagt werden, daß die Übertragung des bundesdeutschen Gewerkschaftsmodells auf die DDR an vielen Alltagssorgen der DDR-Bürger vorbeigehen muß. Ihre Lage wird zunächst bestimmt sein durch zusammenbrechende Betriebe, steigende Mieten und vieles andere mehr. Probleme also, die von Betriebsräten und durch Tarifverträge nur schwer beeinflußbar sind. Hier wären Selbsthilfestrukturen und kommunale Strukturpolitik vonnöten. Orientierungen, die in den deutschen Gewerkschaften seit Weimar verschwunden sind, und die sie sich auch in der Bundesrepublik bislang noch nicht angeeignet haben, obwohl sie auch hier überfällig waren.
Die jetzt in der DDR entstehenden, an den Branchen orientierten Einzelgewerkschaften werden sehr schnell mit Tarifbewegungen versuchen, ihr Klientel in den nicht zusammenbrechenden Betrieben und Dienststellen zufriedenzustellen. Frauen, Rentner, Unqualifizierte, Behinderte, Einwanderer werden in die Röhre gucken. Ihre Probleme werden nicht Thema der darüber hinaus mit vielen Satzungs- und Personalfragen beschäftigten Gewerkschafter sein. Mit dem Aufbau und der Ausgestaltung von Strukturen beschäftigt, die auch in der Bundesrepublik nicht an außerbetriebliche Problemlagen heranreichen, werden diese Gewerkschaften nur die qualifiziertesten Facharbeiter erreichen und Teile der alten privilegierten Schichten, denen ihre ehemalige Karriereversicherung SED abhanden gekommen ist.
Möglicherweise stört die auf dem Verordnungswege zustandegekommende Gewerkschaftseinheit viele Kolleginnen und Kollegen in der DDR und in der BRD nicht. Möglicherweise stört auch die Nichteinmischung in die wesentlichen Fragen der inneren und äußeren Strukturen in Ost und West der zukünftigen Republik Gewerkschafter nicht. Wahrscheinlich zählt hier vor allem die Frage, welche Leistungen die Gewerkschafter für ihre Mitglieder erbringen.
Gerade weil ja die Frage der Leistungen der Gewerkschaften für ihre Mitglieder umfassend die Politik der bundesdeutschen Gewerkschaften dominiert, engagieren sie sich in der DDR in dieser Form.
Der rasche Aufbau von Parallelstrukturen in der DDR wird bestimmt von der nicht ganz unbegründeten Angst vor einem gewerkschafts-organisatorischen Vakuum in der DDR und vor allem vor dessen Rückwirkungen auf die Bundesrepublik. Schnell sprießende berufsständische Organisationen in der DDR könnten die bisher stark homogene Gewerkschaftsstruktur auch in der Bundesrepulik auf Dauer beschädigen. Außerdem wird natürlich ein Billiglohn- und Krisenland DDR die Durchsetzungsbedingungen der Gewerkschaften auch in der Bundesrepublik erheblich beeinträchtigen. Insofern ist der rasche, per Anschluß an die eigene Satzung vollzogene Aufbau von Gewerkschaften in der DDR durchaus im Interesse von Kolleginnen und Kollegen der Bundesrepulik.
Was aber passiert, wenn die bundesdeutschen Gewerkschaften die von ihnen in der DDR erwarteten Leistungen nicht erbringen können und - ausgestattet mit vielen ehemaligen FDGB-Beamten - an den Problemen einer großen Anzahl von DDR -Bürgern vorbeireden? Es steht nicht zu vermuten, daß doppelt ins Leere gelaufene DDR-Arbeitnehmer dann mit den Forderungen nach „Demokratie“ ihre Anliegen vorbringen werden. Wer wird Gewerkschaftern dann noch abnehmen, daß sie sich für Bürger- und Menschenrechte einsetzen, und wer wird sie dann eigentlich noch als eine auch hierfür zuständige Organisation in Anspruch nehmen?
Die Nichteinmischung bundesdeutscher Gewerkschaften in die wesentlichen Fragen der Innen- und Außenpolitik der zukünftigen Republik ist ein beunruhigender Tatbestand. Freilich haben deutsche Gewerkschafter dies überhaupt sehr selten getan. Doch macht dies die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Die politische Enthaltsamkeit in Fragen der Demokratie von deutschen Gewerkschaftern hatte für den Rest der Europäer stets verheerende Folgen. Es droht eine sehr instabile gesamtdeutsche Republik, deren demokratisches Potential gerade wegen der gegenwärtigen Umbrüche nur schwer abschätzbar ist.
Martin Jander
Der Autor ist Mitarbeiter im Referat Bildungspolitik der Gewerkschaft ÖTV in Stuttgart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen